BILD und die Choreografie des alltäglichen Rassismus

Metronaut-Autor Nouveau Cologne wollte nichts mehr zu Sarrazin sagen, dann muss ich das wohl tun. Wir sehen gerade ein wunderbares Beispiel, wie man Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft anfeuert. Denn die BILD-Zeitung fährt die ganz großen Geschütze auf. Im Zuge der Sarrazin-Debatte hatte das Blatt erst Teile des Buches exklusiv abgedruckt, den Rassisten Sarrazin dann verurteilt (Post von Wagner: „scheiße, beschämend, widerlich“) – und jetzt wird Sarrazin rehabilitiert. Verbunden mit einer „Meinungsfreiheit“-Kampagne (Bild-Artikel 1, 2, 3), die mit „Das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ (dazu lesenswert: Mario Sixtus) betitelt ist.

Dabei ist das mit dem armen kleinen Sarrazin, dessen Meinungsfreiheit bedroht ist, wirklich ein guter Witz, wie Ex-Bild BamS-Chefredakteur Spreng in seinem Blog feststellt:

Das Gegenteil ist der Fall: Kaum einer durfte in den letzten Jahren den Mund so weit aufreißen wie Thilo Sarrazin. Die Vorabdrucke seines Buches in BILD und “Spiegel” erreichten 18 Millionen Leser, er war schon Gast in zwei Talkshows mit sechs Millionen Zuschauern, zu seiner Pressekonferenz kamen 250 Journalisten und 30 Fernsehteams, er war Schlagzeile in jeder deutschen Zeitung, Aufmacher in allen TV-Nachrichten. Sein Buch wurde schon 250.000 mal bestellt.


Besser kann man eine „konformistische Revolte“ nicht anzetteln. BILD geht nun natürlich geflissentlich darüber hinweg, dass Sarrazin zu 100% in Rassenlehren des beginnenden 20. Jahrhunderts verhaftet ist. Der Mann ist ein astreiner Rassist, der „Juden-Gene“ ausmacht und Sätze wie diesen in sein Buch schreibt:

“Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche natürliche Zuchtwahl im Sinne von “survival of the fittest”, sondern eine kulturell bedingte, von Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.” (Seite 353)(via)

Wer einen Rassisten wie Sarrazin „als Vehikel für eine eigene Kesseljagd auf die etablierte Politik“ (Carta) benutzt, handelt selbst rassistisch. Wobei ich der These mit der Kampagne gegen die etablierte Politik kaum folgen kann. Denn die etablierte Politik stürzt sich ja nun selbst auf eine „Integrationsdebatte ohne Tabus“ (Merkel) oder kündigt wie Andrea Nahles in Briefen an: „Das ist keine Absage an eine intensive Debatte über Integrationspolitik in unserem Land“. Für die betroffenen Migrant_innen kann sowas nur als eine Art Kampfansage rüberkommen – und das ist es auch.

Mich erinnert das ganze an die Situation nach der Einheit, in der die Kohl-Regierung den Asylparagrafen im Grundgesetz praktisch abschaffte. OK, heute werden nicht landesweit Flüchtlingsheime abgefackelt, es reicht die geistige Brandstiftung eines Arschlochs wie Sarrazin (taz) um Debatten anzustoßen, die in repressiven Gesetzen für Einwanderer und Migranten enden werden. Der CDU kann diese Debatte im Moment nur Recht sein, lenkt sie doch ab von der Verlängerung der Atomlaufzeiten und dem insgesamt als Versagen wahrgenommenen Regieren der schwarz-gelben Koalition.

Wenn jetzt im großen Stil die Umfragen thematisiert werden, dass eine Partei mit Sarrazin an der Spitze 18 % bekommen könnte, dann verwundern diese Zahlen eigentlich nicht. Es ist dieses Fünftel der Gesellschaft, das immer schon ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild hat und latent ausländerfeindlich ist. (Studie FES 2006 als PDF). Wobei die Islamfeindlichkeit der Deutschen noch ausgeprägter ist: nur 16 Prozent sahen den Islam als „passend für unser Land“ fand eine Studie der Uni Bielefeld heraus. (PDF). Genau auf diesem Nährboden wachsen Parteien wie „Pro NRW“, in die Rassist und Islamfeind Sarrazin übrigens hervorragend reinpassen würde.

Was lernen wir daraus: hier wird mit Meinungsfreiheit argumentiert, um die in der Gesellschaft verwurzelte „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“ als politische Karte auszuspielen. Diese Menschenfeindlichkeit hängt übrigens auch (nicht nur) mit Abstiegsängsten der Menschen in der Krise zusammen. Es wäre also vielmehr an der Zeit über eine Stärkung der sozialen Sicherheitssysteme zu reden anstatt bestimmte Gruppen zu stigmatisieren. Hier liegen die Chancen für Integration, Toleranz und demokratischem Handeln.

Aber stimmt, das hatte ich ja vergessen: „Das Sozialsystem ist pervers“ sagt Sarrazin (S.323) – und der muss es ja wissen.

Foto: Bild-Titelseite vom 4.9.2010

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