Das Bundesverfassungsgericht hat in seiner Entscheidung zum Einsatz der Bundeswehr im Innern erlaubt, dass die Streikräfte in „Ausnahmesituationen katastrophischen Ausmaßes“ militärisch, das heißt bewaffnet, auch im Inland eingreifen können.
Das ist ein Novum in Deutschland. Bislang gehörte die strikte „Trennung von Armee und Polizei zum genetischen Code der Bundesrepublik“. Sie ist eine Lehre aus der (deutschen) Geschichte, in der das Militär als innenpolitisches Herrschaftsinstrument eingesetzt wurde. Salopp gesagt: Da kommt immer Scheisse bei raus. In diesem Sinn, gehört die strikte Trennung von polizeilichen und militärischen Aufgaben, zu den absoluten Basics eines jeden, der irgendwie für Grund- und Bürgerrechte eintritt. Das ist Bürgerrechtsgrundschule.
Die Piraten, deren Kernthema die Bürgerrechte sind – und für die ich sie immer schätzte – haben eben jenes Kernthema gerade an die Wand gefahren: sie begrüßen in ihrer Pressemitteilung das Urteil des Bundesverfassungsgerichts.
Ein Urteil, über das der Verfassungsrichter Gaier in seinem Sondervotum sagt:
Der Plenarbeschluss gibt nun das, was für die Bundesregierung vor drei Jahren gegen einen der Koalitionspartner – und auch gegen die Stimmverhältnisse im Bundesrat – nicht durchsetzbar war.
Gaier hält das Urteil für eine Verfassungsänderung, die dem Gericht nicht zustehe. Wer die Trennung von Militär und Polizei ändern wolle, müsse sich nicht nur der öffentlichen politischen Debatte stellen, sondern auch die zu einer Verfassungsänderung erforderlichen parlamentarischen Mehrheiten (Art. 79 Abs. 2 GG) für sich gewinnen.
Ich erwarte von einer Partei, die sich Bürgerrechte auf die orangenen Fahnen schreibt, dass sie in Sachen Bürgerrechte kompromisslos bleibt. Dass sie jede Aufweichung ablehnt. Dass sie Hintertürchen erkennt. Dass sie Debatten anstößt. Dass sie Fragen aufwirft. Dass sie Verfassungsänderungen auf den Zahn fühlt. Dass sie die Bürgerrechte verdammt nochmal schützt.
246.000 potenziell bewaffnete Polizeibeamte sind nicht genug?
In der Süddeutschen Zeitung hat Oliver Klasen davon gesprochen, dass das Bundesverfassungsgericht einen Tabubruch begeht. Das ist die Tonalität, die ich von Bürgerrechtlern erwarte. Aber die Piraten mit ihrer flauschigen „Karlsruhe wird´s schon richten“-Attitüde haben dies nicht erkannt, auch wenn sie das mit den Waffen irgendwie nicht so gut finden.
Thomas Stadler stellt richtig fest:
Liebe Piraten, das Gericht setzt dem Einsatz der Bundeswehr im Inneren keine engen Grenzen, sondern erlaubt es vielmehr erstmals, bewaffnete Streitkräfte im Inland (in engen Grenzen) überhaupt einzusetzen. Zumindest das hätte in der Pressemitteilung stehen müssen.
Und auch ein Blick in die jüngere Politik, ist doch ein Wink mit dem Zaunpfahl, wie sich eine Bürgerrechtspartei in dieser Frage zu verhalten hat: Schilys Luftsicherheitsgesetz, der „finale Rettungsabschuss“, wurde im Jahr 2006 vom Bundesverfassungsgericht kassiert. Schäuble scheiterte mit seinem Versuch, die Bundeswehr im Innern einzusetzen, an parlamentarischen Mehrheiten. Es ist ja nicht so, dass man einen Einsatz der Bundeswehr im Innern, nicht mit politischen Argumenten und Debatten zerlegen könnte.
Wenn man sich die Entwicklung unserer Verfassung und der Spielräume der Bundeswehr anschaut, fällt auf: bis 1956 gab es gar keine Armee, dann kam die Wiederbewaffnung mit der Bundeswehr als Verteidigungsarmee, bei der die Bundeswehr nicht einmal im Notstand eingesetzt werden durfte. Durch die Notstandsgesetze 1968 wurde die Befugnis eines Einsatzes im Innern erstmals in sehr engen Grenzen geregelt, bei der allerdings ein Einsatz militärischer Waffen ausgeschlossen blieb. Mit Rot-Grün kam die nach außen gerichtete Verwässerung von dem, was eigentlich Landesverteidigung ist – und eine Hinwendung zu Auslandseinsätzen aller Art. Das jetzige Urteil aber erlaubt einen bewaffneten Einsatz im Inland mit militärischen Mitteln erstmals.
Wer hier nicht erkennt, dass die Einsatzmöglichkeiten und Spielräume der Bundeswehr auch im Innern über die Zeit hinweg sukzessive erweitert werden, verschließt die Augen. Dass die Linke mal wieder die einzige Partei war, die das Urteil rundweg ablehnte, spricht für sie. Die Piraten haben ein weiteres Mal gezeigt, dass sie entweder politisch nicht gewillt oder in der Lage sind, Bürgerrechte richtig zu schützen. Schade.
Update (23.8.2012/10:45)
1) Menschen aus der Piratenpartei haben eine Liquid Feedback Initiative gestartet, die den bewaffneten Einsatz der Bundeswehr im Innern ablehnen soll. Ziel des Textes ist ein Zurück auf den bisherigen Status. Mir erscheinen die Formulierungen schnell gestrickt und irgendwie juristisch nicht wasserdicht, aber das müssen andere überprüfen.
2) Thomas Stadler hat seinen Artikel noch einmal aktualisiert. Er konkretisiert dabei die Einsatzmöglichkeiten von Kriegsgerät anhand des Urteils. Dabei sieht er, dass z.B. der „finale Rettungsabschuss“ mit dem Urteil legalisiert sein könnte:
Man sollte auch nicht vergessen, dass die Entscheidung vor dem Hintergrund des Luftsicherheitsgesetzes ergangen ist und das BVerfG den Aspekt der “Lufzwischenfälle” ausdrücklich thematisiert. Die Lufzwischenfälle gehören also durchaus zu den denkbaren neuen Anwendungsfällen.
3) Die Piraten in BW haben in einer Pressemitteilung vom 20.8.2012 das Urteil als Legitimation von Kampfeinsätzen im Innern „bedauert“. (Danke, Klischeepunk)
Ich vermute, dass der Kern der Pressemitteilung in der fanatischen BVerfG-Gläubigkeit vieler Piraten begründet liegt. Als ob die Richter_innen nicht auch nur Menschen sind, die bei einer Interpretation des GG oder eben auch einer Grundsatzentscheidung (deren Regelung nicht unbedingt im GG zu finden ist) falsch liegen können. Stattdessen erfolgt eine Überhöhung des Gerichts zu einer orakelgleichen Instanz, quasi als ‚letzte Hoffnung‘ zur Verteidigung unserer Grundrechte. Auch das Urteil des BVerfG zur Vorratsdatenspeicherung war in diesem Sinne nicht begrüßenswert, da es den Weg für eine VDS in „engen Grenzen“ (entlang des Rückzugs auf entsprechende technische Schutzmaßnahmen) geebnet hat.
Egal, der emanzipatorische Kampf für Menschen- und Freiheitsrechte findet zum Glück nicht nur in Parteipressestellen und Mandatsträgerbüros statt.
Völlig richtig. Was dann auch wieder für eine gewisse politische Unfähigkeit der Piraten spricht, solche Entscheidungen richtig einzuordnen.
Nur mal so verständnishalber:
gegen welches „Bürgerrecht“ verstößt denn so ein möglicher Einsatz der Bundeswehr im Inland ganz konkret?
Ich verweise an dieser Stelle auf die PM des LV BW:
http://piratenpartei-bw.de/2012/08/20/bundesverfassungsgericht-legitimiert-kampfeinsatz-der-bundeswehr-im-inneren/
@MrT: Der Einsatz des Militärs im Innern verfügt über ein Drohpotenzial, das Grund- und Bürgerrechte (z.B. Versammlungsrecht, Demonstrationsfreiheit) einschränkt. Auch wenn das Urteil einen bewaffneten Einsatz gegen Demonstrationen ausschließt, ist wie Stadler sagt, die Türe für eine Erweiterung des Einsatzes der Bundeswehr im Innern einen Spalt breit geöffnet. Wenn wir uns die Entwicklung in der Bundesrepublik anschauen, dann ist klar erkennbar, dass sich die Linie immer mehr Richtung Einsatz der Bundeswehr im Innern verschiebt. Deswegen ist eben jeder Schritt in diese Richtung abzulehnen – zum Schutz der Grund- und Bürgerrechte.
Hinzu kommt, dass es eine allgemeine Tendenz in Europa gibt, Militär im Innern einsetzen zu wollen. Vergleiche hierzu die neue spanische Militärdoktrin.
Außerdem erwarte ich von einer Bürgerrechtspartei, dass sie die Trennung von einerseits Geheimdiensten und Polizei und andererseits Militär und Polizei als einen wichtigen Grundsatz der Verfassung erachtet. Diese Trennungsgebote schützen die Freiheitsrechte der Bürgerinnen und Bürger und verhindern Machtkonzentrationen, die einer Demokratie entgegenstehen.
Diese Pressemitteilung ist intern stark kritisiert worden. Ich muss diesem Artikel Recht geben. So eine Pressemitteilung hätte nie veröffentlicht werden sollen.
Die Bürgerrechtler unter uns Piraten sind sehr überrascht davon gewesen.
@John: Ja äh, danke & sorry, aber das war jetzt für mich einfach strukturierten Menschen quasi eine Politiker-Antwort („Drohpotenzial“, „Türe einen Spalt breit geöffnet“, hä?).
Ich sehe noch nicht, welches Bürgerrecht KONKRET verletzt ist, die von Dir angeführte Demonstrationsfreiheit scheint es ja zumindest mal nicht zu sein.
Mal ein paar Tage offline und schon lese ich als Pirat von dieser PM. Gebe dem Artikel insofern Recht, dass die PM Murks ist. Ich will keine Bundeswehr im Innern. Ich hoffe da gibt es noch mal ne Klarstellung. Alle Piraten, mit denen ich nun gesprochen habe, sind ebenfalls gegen den Einsatz im Innern.
Da steckt vermutlich wie so oft der Widerspruch drin, möglichst schnell eine PM rauszuhauen, damit es noch aktuell ist und gleichzeitig Infos der Basis zu haben, ob die PM so getragen werden kann (quasi unmöglich, aber wer PMs schreibt, sollte unser Programm kennen und dann keine eigenen Erfindungen machen).
Bin ich froh, dass wenigstens schon einige widersprochen haben …
@MrT: Wenn Du den Zusammenhang von Militär im Innern und Bürgerrechten / demokratische Verfassung nicht erkennst, dann ist Dir leider kaum zu helfen. Vielleicht hilft ja der folgende Artikel auf die Sprünge: http://www.zeit.de/2008/42/Bundeswehr
@Mikael: Ich erkenne jedenfalls, daß es nicht nur Politikern im TV schwerfällt, eine konkrete Antwort auf eine konkrete Frage zu geben.
Vielleicht versucht es noch jemand?
Johns Antwort und die verlinkten Artikel und Infos sind doch sehr konkret und kein Politikersprachhülsengeschwafel. Wenn Du das mit der Bundeswehr im Innern toll findest und keine Probleme damit hast, dann ist das halt so. Viel Spaß in deinem Gesellschaftsmodell!
Das einzig Konkrete ist die nicht gefährdete Demo-Freiheit, da der Einsatz gegen Demonstranten ja gerade ausgeschlossen ist. Ansonsten Potenzial, Spalt breit, Tendenz und Erwartung.
Wahrscheinlich bin ich zu einfach gestrickt für solche Ausführungen, oder wir haben unterschiedliche Ideen von „konkret“. Wenigstens tröstet mich, daß die Piraten bei dem Thema ganz offensichtlich auch gespaltener Meinung sind.
Danke für die guten Wünsche!
@MrT: Sie fragen nach dem hierdurch konkret verletzten Bürgerrecht?
Ich zeige z.B. mal auf Art. 2 GG Abs. 2, d.h. dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Militärische Mittel (Soldaten, Waffen, Streubomben etc.) sind noch wesentlich ungezielter als die ohnehin auch gegen so genannte „Nichtstörer“ gerichteten Waffen der Polizei (Stichwort Pfefferspray). Auch Verhältnismäßigkeitsüberlegungen stehen beim Militär eher hinten an…
@MrT mit T wie T****,
auch wenn’s den Bogen ins Extrem spannt: Lesen Sie zum Stichwort „Tendenz“ im gegebenen Kontext doch einfach mal hier:
http://de.wikipedia.org/wiki/Erm%C3%A4chtigungsgesetz
Hallo allerseits,
ich bin Pirat und einer der Autoren der PM.
Was mich geritten hat, nicht auf den Zug „prügelt das BVerfG“ aufzuspringen (das ist trivial, man liest einfach nur die Hälfte wie der Blog oben und interpretiert da noch etwas rein, was in der PM nicht steht und was das BVerfG wohl auch nicht meint) habe ich hier beschrieben: http://gedankenundrecht.wordpress.com/2012/08/18/das-bverfg-und-die-bundeswehr-im-inneren/
@nutellaberliner: Herr Stadler hat Ihnen dazu bereits in seinem(!) Blog qualifiziert geantwortet.
Nebenbei gefragt: Wer „prügelt“ denn das BVerfG?
(Tztz. Das wäre dann wohl nach § 231 StGB starfbar…)
Aus gegebenem Anlass verweise ich auf
http://de.wikipedia.org/wiki/Luftangriff_bei_Kunduz#Konsequenzen
[MONEY QUOTE]
Abschlussbericht der Bundesanwaltschaft vom 16. April 2010: Selbst wenn „mit der Tötung mehrerer Dutzend geschützter Zivilisten hätte gerechnet werden müssen“, hätte dies „bei taktisch-militärischer Betrachtung nicht außerhalb jeden Verhältnisses zu den erwarteten militärischen Vorteilen gestanden“. Sowohl die Vernichtung der Tanklastzüge als auch die Ausschaltung ranghoher Taliban hätte eine „nicht zu unterschätzende militärische Bedeutung“ gehabt, ein völkerrechtswidriger „Exzess“ Kleins scheide somit aus.
[/MONEY QUOTE]
Kurzum: Mit einer MG in eine Menschenmenge zu feuern ist legitim wenn davon ausgegangene wrden kann, dass dadurch auch Terroristen mit draufgehen. So siehts mal aus wenn man das Militaer mit einem Kampfauftrag versieht. Glaubt deb wirklich jemand das waere anders wenn die Bundeswehr in Deutschland statt in Afgahnistan kaempft?
Als i-Tupfelchen wurde der fuer die Ermordung von ueber 100 Zivilisten inklusive Kinder vom Oberst zum General befoerdert:
http://www.tagesschau.de/ausland/oberstklein104.html
Gute Leistung hunderte von Terrorzivilisten zu vernichten! Freu moch scgon drauf wenn er bald die Bomben ueber ungehemigte Demonstrationen (=Terror!) abwirft. Noch mal hundert tote Zivilisten und dann wird er bestimmt nochmal Befoerdert, ggf. zum Bundesterrorminister.
Es geht hier einzig und allein darum, dass sich die Regierung auf zukünftige Auseinandersetzungen mit bzw. gegen das Volk vorbereiten möchte.
Wir brauchen gar nicht mal weit zu schauen.
Spanien kriminalisiert ihre Bevölkerung in dem sie schon den Aufruf zum Widerstand verbietet, um dann auch per Dekret, ebenfalls ihre Armee gegen die Bürger einzusetzen.
Als ich jung war, war das Territiorialheer dafür zutändig. 10.000 Soldaten, direkt unterstellt dem Kanzler zur Landesverteidigung. Mich inklusive. Hat sich das geändert?
(Und Danke für die gute Lese nebenbei). Gute Seite. Ein ehemaliger Soldat des Territiorialheeres der Bundesrepublik Deutschland.
„Kommando Territoriale Aufgaben“ ist bei Wikipedia nicht eingetragen. Kann da einer nachhelfen? Ich weiss auch nur drei Sachen (darüber mag man halt in unserer Repuplik nicht sprechen als ehemaliger Soldat) und bin da nicht registriert. Vielen Dank schon mal.
Ich lasse alles los (das deutsche Anonym zum amerikanischem Topseller): ich war Mitglied der 10.000 Mann umfassenden Heeresabteilung „Territoriale Landesverteidigung“. Wir waren unterstellt alleine unserem Kanzler. Die Nato hatte keine Befehlsbefugniss. Wir hätten jederzeit innenpolitisch eingreifen können. Wir hätten befohlen werden können, Dinge anzustellen. Uns wurde solches niemals befohlen und unser Rechtsgefühl war immer auf der richtigen Seite. Ich hoffe, das derzeitige Heer der territorialen Landesverteidigung denkt ebenso.
Diese sind nebenbei erkennbar an Ihren roten Kappen (zumindest in meiner Zeit). Es gibt weitershin keinen Grund, diese Soldaten zu verachten. Ganz im Gegenteil.
(Zum Buch hat es wie wie bei meinem amerkanischen Kollen von den Navy Seals nicht gereicht.) Anyway: ich bin das erste Mal hier und klicke mich mal durch die vielversprechenden Rubriken.
Darf ich hier nachfragen: war ich als Soldat der territorialen Landesverteidigung illegal beschäftigt?
in meiner Zeit: psychologische Verteidung
vormals: territoriale Landesverteidigung
jetzt: Territoriale Aufgaben
Wie billig, aber jeder fällt drauf rein.
Wenn es jemand darauf anlegt das im Innern die BW massiv gegen Zivilisten eingesetzt werden soll,dann sehr unsichere Mitmenschen.Diese Mitmenschen haben kein Vertrauen in demokratische Vorgangsweisen und wollen andere in ihr enges Weltbild zwingen.
Ob ein Passagierjet für terroristische Zwecke verwendet wird oder Demonstranten als Deckung für Anschläge missbraucht werden könnten solchen Leuten ist jeder Vorwand recht.
Je weniger der Bürger seine Rechte nutzt und sich informiert und z.b. denkt Bundeswehr ist eine Art cobra 11 mit Panzern desto grösser die Chancen für die Unsicheren.
Solang kein „Dr Strangelove…“ Szenario eintritt mit paranoiden Militärs durchgeknallt/vernünftigen Wisenschaftlern und unter Handlungszwang stehenden Politikern…