Amnesty International hat 2. Oktober in Istanbul einen umfassenden Bericht (PDF) zu den Menschenrechtsverletzungen bei den Protesten in der Türkei zwischen Mai und Juli 2013 vorgestellt. Hier die von uns erstellte deutsche Zusammenfassung:
Der Bericht teilt die Menschenrechtsverletzungen in folgende Kategorien auf:
- Verhinderung der Ausübung der Versammlungsfreiheit
- Staatliche Gewalt gegen Demonstrierende
- Straflosigkeit von Polizisten
- Repressionen gegen die Organisatoren der Proteste.
- Angriffe auf Presse, Anwälte und Sanitäter
Der Amnesty-Bericht zählt bis zum 15. Juli 2013 insgesamt 4900 Festnahmen und über 8000 Verletzte, davon mindestens 61 Schwerverletzte. Und drei Tote, die direkt auf die Polizeieinsätze zurückzuführen sind.
Die Menschenrechtsverletzungen im Einzelnen:
Verhinderung der Ausübung der Versammlungsfreiheit
Der türkische Staat hat laut Bericht wiederholt und willkürlich das Recht auf Versammlungsfreiheit ohne jegliche Begründung verwehrt. Wenn es Begründungen gab, waren diese meistens mit internationalen Menschenrechten nicht vereinbar. Das Recht auf Versammlungsfreiheit ist nicht nur Bestandteil der Internationalen Erklärung der Menschenrechte, die die Türkei unterzeichnet hat, sondern auch der Verfassung der Türkei selbst. Der Amnesty-Bericht bescheinigt der überwältigenden Mehrheit der Proteste Friedfertigkeit und spricht auch davon, dass vom Staat Agent Provocateurs eingesetzt wurden. Laut Amnesty hätte die Polizei bei vereinzelten Gewalttaten gegen die Gewalttäter und nicht gegen die gesamte friedliche Demonstration vorgehen müssen.
Der Einsatz von Gewalt gegen Demonstrierende:
Wasserwerfer
Sie wurden routinemäßig bei den Protesten eingesetzt, oft gegen friedliche Demonstrationen und auch wenn die Menschenmenge schon flüchtete. Wasserwerfer wurden dazu genutzt, um gegen Protestierende in Häusern vorzugehen. Am 15. und 16. Juni wurden Wasserwerfer gegen Orte eingesetzt, wo verletzte Demonstranten von Ärzten behandelt wurden. So geschehen im Deutschen Hospital und im Diwan Hotel. Außerdem wurden den Wasserwerfern Reizstoffe beigemengt, dies konnten auch Metronaut-Redakteure vor Ort bestätigen als sie von einem solchen Wasserwerfer getroffen wurden.
Tränengas und Pfefferspray
Mehr als 130.000 Kartuschen mit Tränengas wurden während der Proteste oftmals gegen friedliche Demonstranten verschossen. Der türkische Staat bestellte im August 2013 400.000 nach. Der normale jährliche Verbrauch an Reizgaskartuschen soll bei 150.000 türkeiweit liegen. Tränengaskartuschen wurden auf Kopfhöhe der Demonstrierenden verschossen und so als Waffe eingesetzt. Amnesty hat hierzu zahlreiche betroffene Menschen für den Bericht interviewt (S. 21ff). Das Podcast-Team von Metrolaut hat einmal den Einsatz von Tränengas gegen ein Wohnhaus beobachten können. Der Einsatz von Tränengas in geschlossenen Räumen ist völkerrechtlich geächtet. Zusätzlich zum Tränengas wurde Pfefferspray aus Sprühkanistern eingesetzt.
Einsatz von Plastikgeschossen und scharfer Munition
Der Einsatz von scharfer Munition war relativ selten, dafür der von Plastikgeschossen um so häufiger. Laut Amnesty-Bericht ging sehr viele der Verletzungen auf Plastikmunition zurück.
Illegale Festnahmen
zahlreiche Berichte erzählen von Festnahmen, die außerhalb offizieller Orte oder ohne rechtmäßige Begründung stattfanden. Amnesty verurteilt diese illegalen Festnahmen als Verletzung der Rechte Gefangener und als gezielte Einschüchterungsmethode gegenüber Demonstranten.
Sexuelle Übergriffe durch Polizeikräfte
Amnesty hat zahlreiche Berichte erhalten von Personen, denen sexuelle Übergriffe angedroht und zwei Berichte, in den sexuelle Übergriffe stattfanden.
Zusammenschlagen / Knüppeleinsätze
Laut Amnesty-Bericht kam es bei Demonstrationen regelmäßig („universally“) dazu, dass Menschen von der Polizei geschlagen wurden. Weitere Orte dieser Übergriffe waren Polizeifahrzeuge und das „inoffizielle“ Polizeigewahrsam bei illegalen Festnahmen. Im Bericht gibt es auf den Seiten 28ff zahlreiche Berichte von Betroffenen.
Straffreiheit für Polizisten
Amnesty geht davon aus, dass trotz hunderter doumentierter Polizeiübergriffe eine Strafverfolgung der Polizisten nicht in Sicht ist. Polizisten genießen traditionell in der Türkei eine De-facto-Immunität, insbesondere bei Einsätzen auf Demonstrationen. Polizeitaktiken wie das „inoffizielle Gewahrsam“ und das fehlen persönlicher Identifikationsnummern erschweren die Strafverfolgung zusätzlich.
Festnahmen im Rahmen von Demonstrationen
Bis zum 24. Juni wurden nach offiziellen Angaben etwa 4.900 Menschen bei Demonstrationen in der ganzen Türkei verhaftet, 3.400 am ersten großen Protest-Wochenende Ende Mai / Anfang Juni. Amnesty kritisiert, dass viele der Festnahmen willkürlich gewesen seien und sich oftmals gegen friedliche Demonstrierende richteten.
Strafverfolgung und Repressalien gegen Organisatoren von Protest
Mehr als 200 Personen wurden im Rahmen von Hausdurchsuchungen bei Protestbündnissen und politischen Gruppen festgenommen. Viele von ihnen sind weiterhin in Haft, gegen manche wird unter Hinzuziehung der Anti-Terror-Gesetzgebung oder wegen „Mitgliedschaft in einer verbotenen Organisation“ ermittelt.
Strafverfolgung
Amnesty geht davon aus, dass zahlreiche Personen alleine wegen der friedlichen Teilnahme an einer Demonstration in Maßnahmen der Strafverfolgung geraten sind. Als Beweise gegen diese Personen werden unter anderem der Besitz einer Staubschutzmaske, eines Bauarbeiterhelms oder eines Arbeitshandschuhs zu Felde geführt.
Angriffe auf Unterstützer, Presse, Sanitäter und Anwälte des Protests
Verschiedene Organisationen sind in den Fokus von Repressalien geraten, weil sie „den gewalttätigen Protest als demokratisches Recht beschrieben hätten“. Unter ihnen werden in einem Bericht der Polizei Ankara genannt: The Chamber of Architects and Engineers (TMMOB), The Contemporary Lawyers Association (ÇHD), the Turkish Medical Association (TTB), Ankara Bar Association, The Human Rights Association of Turkey (IHD) and Ankara Medical Association. Aber auch Medienorganisationen wie CNN, BBC, The Economist, Al Jazeera und Reuters tauchen im Bericht auf. Im Amnesty-Bericht heißt es:
Representatives of the groups singled out for government criticism have also been targeted by police on the ground with verbal abuse, detention, physical violence or other threats. Such groups have notably included journalists working for the international media and opposition media in Turkey, social media users, doctors that provided first aid to those injured at the scene of demonstrations and lawyers who provided a key role offering advice and representing people in detention.
Angriffe auf Sanitätskräfte
Wegen des massiven Einsatzes von Gewalt und der Angst der Demonstrierenden vor Verhaftung, wenn sie in reguläre Krankenhäuser gehen, entstanden rund um den Protest zahlreiche spontane Lazarette zur Behandlung von verletzten Demonstranten. Diese waren immer wieder Ziel von Angriffen der Polizeikräften. Hierbei ging die Polizei gezielt gegen Ärzte und Pflegepersonal vor, nahm Personen in weißen Kitteln fest und setzte auch Tränengas (Istanbul, Ankara) ein. Vor dem Eingang des Deutschen Hospitals in Istanbul setzte die Polizei Wasserwerfer und Tränengas ein. Dies beobachteten auch die Metronaut-Reporter vor Ort. Gleichzeitig versuchte die türkische Regierung die schiere Existenz der „Feldlazarette“ zu kriminalisieren, z.B. indem sie offizielle Genehmigungen für den Betrieb dieser einforderte.
Repressionen gegen Anwälte
Mindestens 49 Anwälte wurden während der Proteste festgenommen, viele von ihnen verbal eingeschüchtert.
Angriffe auf Journalisten
Reporter ohne Grenzen geht von 54 Journalisten aus, die während der Proteste in verschiedener Form angegriffen wurden. Dazu gehörten Wasserwerfereinsätze gegen Kameraleute, Misshandlungen, Festnahmen, Zerstörung von Filmmaterial, Desinformation, Behinderung der journalistischen Arbeit sowie Beleidigungen und Einschüchterungsversuche.
Social Media Users
Wegen der Selbstzensur der türkischen Mainstream-Medien, spielte Social Media eine große Rolle für die Berichterstattung und Mobilisierung der Proteste. Die türkische Regierung nannte Twitter eine Plage und kündigte eine verschärfte Social Media Gesetzgebung an. Unterdessen hat die Polizei ein Verfahren gegen 38 Twitter-User eröffnet, dessen Ausgang immer noch unklar ist. Den Twitternutzern wird „Aufruf zu Straftaten“ vorgeworfen, obwohl die Tweets eher Unterstützung für die Proteste aussagten oder angaben, wo medizinische Hilfe gebraucht wurde.
Schlüsse und Empfehlungen des Berichtes
Der Amnesty-Bericht endet mit dem Schlüssen und Empfehlungen. Der türkischen Regierung empfiehlt Amnesty neben einer Aufarbeitung der Vorgänge auch konkrete Gesetzesänderungen, wie die Abschaffung des Gesetzes „Failure to disperse upon request“ (Artikel 32), außerdem Ermittlungen gegen Straftäter in Reihen der Polizei und eine andere Polizeitaktik, die auf Deeskalation setzt.
Ausländischen Regierungen empfiehlt Amnesty einen sofortigen Stopp der Lieferung von Reizgasen und Plastikmunition bis es eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge gegeben hat.
Es folgt eine Liste mit Ländern, die folgende Ausrüstungsgegenstände an die Türkei liefern:
Brasilien
Tränengas von „Condor Non-Lethal Technologies SA“ – Regierung von Firma bestätigen Lieferung
Belgien
FN 303 Waffe zum Abschuss von Pfeffer, gelber Markierungsfarbe und Plastikgeschossen. Der Handel wurde 2010 angekündigt, die Waffen 2013 im Einsatz gesehen.
China
Die Zhejiang Huaan Security Equipment Co Ltd hat „Riot Control Suits” im Jahr 2006 an die Türkei geliefert.
Tschechische Republik
Die Regierung Tschechiens bestätigt, dass Tschechien in den Jahren 2010 und 2011 eine nicht genannte Anzahl an Elektroschockern und Pfefferspray in die Türkei exportiert hat.
Hong Kong
„Checkmate Industries“ stellt eine große Bandbreite an „Riot Control Equipment“ her, einschließlich Fahrzeuge, Waffen zum Abschuss, Munition und Schutzequipment. 2013 hat die Firma die Türkei als Exportland genannt, aber hat nicht spezifiziert, was geliefert wurde.
Indien
Die Firma Tear Smoke Unit (TSU) aus ekanpur, Madhya Pradesh, verkündete im Jahr 2009, dass sie große Aufträge habe, auch aus der Türkei. In 2007 verkündete TSU, dass die Türkei 10.025 Tränengaskartuschen gekauft habe.
Israel
Das israelische Unternehmen Beit Alfa Technologies / Beit Alfa Trailer Co., (BAT), Entwickler des Pulse Jet Wasserwerfers, haben im Jahr 2007 Wasserwerfer der Türkei ausgerüstet. Die Firma „Nurol Makina“ ist BATs Partner/Agent in der Türkei. Die „TOMA“-Wasserwerfer, die von türkischer Polizei und Gendarmerie wird zwar von Nurol Makina hergestellt, sieht aber aus wie der Wasserwerfer der israelischen Firma BAT.
Süd-Korea
Tränengasmunition der Firma CNO Tech wurden 2013 in der Türkei gefunden.
Groß-Britannien
Im Mai 2011 wurde eine Lizenz zum Export von Tränengasgranaten im Wert von 32.000 Pfund in die Türkei ausgestellt, im Dezember dann eine offene Lizenz für eine nicht-spezifizierte Anzahl von „Crowd Control Ammunition“ inklusive Tränengas sowie kleinen Waffen und Zusatzteilen/Zubehör.
USA
Eine große Anzahl von Tränengasgranaten der US-Firma „Non Lethal Technologies Inc“ aus Homer City wurden auf dem Taksim Square im Jahr 2013 gefunden.
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