Eine Sternschnuppe. Nein, ein Komet. Quatsch, bloß eine Spiegelung. Ihr habt ja alle keine Ahnung, das war sicher ein Raumschiff voll mit Außerirdischen, die das größte Ereignis in Norwegen angucken wollen. So ungefähr hört es sich an, wenn engagierte Betrachter eines Livestreams, in dem nichts, aber auch gar nichts passiert, ein winziges Detail – im vorliegenden Fall einen kurz durchs Bild fliegenden Lichtpunkt – diskutieren. Um dann wieder viele Witze zu machen, denn nur auf die nächtlichen Infrarotaufnahmen eines Bergs, der schon tagsüber einfach nur ereignislos dasteht, zu starren, ist streng genommen ziemlich langweilig.
Allerdings nicht dann, wenn a) von diesem Berg der größte Steinschlag in der neueren Geschichte Norwegens ausgehen soll und b) dieser Berg Mannen, deutsch: Mann, heißt, was alles zusammen genommen bedeutet, dass man Zeuge einer Naturkatastrophe werden und dazu auch noch viele, viele Witze machen kann. Und so schauen Tag und Nacht viele Tausend begeisterte Mannen-Fans dem Berg beim Herumstehen zu, und das nun schon seit Wochen.
Dabei hatte alles sehr dramatisch begonnen. Nachdem Geologen festgestellt hatten, dass sich der Berg ungewöhnlich stark bewegte – um durchschnittlich bis zu 1,5 Zentimeter pro Stunde im obersten Teil –, schlugen sie Alarm. Ein riesiger Steinschlag stehe unmittelbar bevor, warnte Chefgeologe Lars Harald Blikra am 20. Oktober, 120 000 Kubikmeter Geröll würden dann ungebremst zu Tal rasen. Die für die Überwachung der norwegischen Berge zuständige Åknes/Tafjord Beredskap IKS hatte gemeinsam mit der Universität von Mailand ein Computerprogramm entwickelt, das Steinschläge und deren Auswirkungen simulieren kann. Mit Hilfe dieser Software sei es möglich, von jedem Berg virtuell große Felsblöcke abzusprengen und dann berechnen zu lassen, wie weit die Geröllmassen in die jeweiligen Täler abrutschen und ob sie dabei Menschenleben gefährden können.
Beim anstehenden großen Mannen-Steinschlag werde dies der Fall sein, waren sich die Geologen sicher, und so begannen am 22. Oktober Polizei und Feuerwehr mit der Evakuierung der Bewohner. Zwei Bauernfamilien, insgesamt neun Personen, mussten ihre unmittelbar im Gefahrengebiet liegenden Höfe verlassen, zusätzlich wurde eine Brücke gesperrt, was dazu führte, dass einige Häuser und Ferienhütten seither nicht mehr erreichbar sind und ihre Bewohner ebenfalls als evakuiert gelten. Eine Bahnlinie, die sogenannte Raumabahn, musste den Verkehr einstellen.
Und dann begann das Warten auf den Steinschlag. Die meisten norwegischen Tageszeitungen hatten Livestreams eingerichtet, um ihren Lesern das unmittelbar bevorstehende große Ereignis zeigen zu können – und die verfolgten die Übertragungen begeistert. Unter dem Hashtag #Mannen kommentierte man das, was man gerade sah – im Prinzip einen ruhig vor sich hin stehenden Felsen –, und als das zu langweilig wurde, unterhielt man sich mit dem Posten von Musikvideos. War anfangs noch »It’s raining men« von den Weathergirls das Stück der Wahl, landete man schließlich eher resigniert bei »I’m still standing« (Elton John), denn der bockige Berg wollte einfach nicht das tun, was die Geologen prognostiziert hatten.
Dabei heißt der Berg eigentlich nicht Mannen, was erklärt, warum er bei Wikipedia auch nicht in der Liste der norwegischen Erhebungen vorkommt. Die ganze Erhebung werde von der Lokalbevölkerung Børå-platå, Børå-Plateau, genannt, erklärten Anwohner der auf den großen Rutsch wartenden Hauptstadtpresse. Mannen sei eigentlich bloß die Bezeichnung für einen ganz oben liegenden Stein, der – mit etwas gutem Willen interpretiert – wie ein Penis geformt sei. »Die ganze Gegend wurde schon vor Jahrhunderten als Weidefläche für Vieh benutzt, und da musste man eben Namen für markante Punkte haben, wenn man sich orientieren wollte«, sagte ein lokaler Fischer. Durch solche Details ließen sich aber weder norwegische Journalisten noch ihre Leser beirren, der Berg heißt nun Mannen und fertig.
Er erweist sich als überaus eigenwillig. Nachdem Chefgeologe Blikra versichert hatte, dass der Mannen im Prinzip jeden Moment abrutschen könne, präzisierte er seine Prognose nach den Evakuierungen dahingehend, dass das große Ereignis ganz sicher am 26. Oktober, vermutlich zwischen 19 und 20 Uhr eintreten würde. Pustekuchen. Immerhin brachte seine Voraussage den Zuschauern des Livestreams, die nach Einbruch der Dunkelheit bis dato auf die Liveübertragung des im Stockdunklen dastehenden Bergs geschaut hatten, also außer schwarzem Bildschirm im Prinzip nichts sahen, eine viel bejubelte Abwechslung. Der Privatsender TV2 installierte eine Infrarotkamera, so dass nun nachts graue Strukturen zu sehen waren, die zwar weiterhin völlig ereignislos herumstanden, aber dafür an die Bilder der ersten Mondlandung erinnerten, was immerhin Stoff für viele, viele Witze bot.
Ein Grund für die überraschende Standfestigkeit des Mannen ist das Wetter. Trocken und kalt ist es in der Gegend derzeit, für Steinschläge günstig sind jedoch Geologen zufolge milde Temperaturen und Niederschläge. Theoretisch könnte der überaus renitente Berg also noch sehr lange so dastehen, wie er eben dasteht, was ungeduldige Politiker nun jedoch ändern wollen. Bereits wenige Tage nach den Evakuierungen wurde darüber diskutiert, ob man den Mannen nicht einfach sprengen könne, was jedoch – auch aus versicherungstechnischen Gründen, denn dann würde es sich nicht mehr um eine Naturkatastrophe handeln – schnell verworfen wurde. Mittlerweile wird allerdings wieder wohlwollend darüber nachgedacht, den Berg notfalls mit menschlicher Nachhilfe zu Fall zu bringen. Wasserbomben, wie man sie zur Bekämpfung von Waldbränden einsetzt, sollen dann gezielt eingesetzt werden. Der Bürgermeister der Region, Lars Olav Hustad, findet allerdings, dass man in Norwegen über viel zu wenig Erfahrung mit der Bombardierung von Bergen verfüge und entsprechend gar nicht genau wisse, welchen Effekt ein solcher Eingriff habe. Hustadt scheint ohnehin davon überzeugt zu sein, dass der Mannen noch sehr lange unbeeindruckt von allem menschlichen Treiben um ihn herum tun wird, was er eben tut, denn er regte Anfang dieser Woche an, den Evakuierten wenigstens kurz zu erlauben, in ihre Häuser zurückzukehren, damit sie persönliche Gegenstände holen können, und die derzeitig gesperrte Raumabahn wieder fahren zu lassen.
Der Livestream und seine vielen Fans – TV2 meldete vergangene Woche begeistert, dass mittlerweile sogar Menschen aus dem Ausland zuschauten – blieb schließlich in den USA nicht unbemerkt. AP veröffentlichte am Dienstag voriger Woche eine launige Meldung, die in Norwegen auf viel Empörung stieß. Natürlich passiere im Stream nichts, kommentierten User und Journalisten gleichermaßen engagiert, aber das sei ja auch gerade das Tolle, nämlich umfassend entspannendes Slow-TV, das in Norwegen bereits eine gewisse Tradition habe. 2011 habe der Staatssender NRK einen fünftägigen Livestream der Hurtigruta angeboten, der weltweit von Zigtausend Menschen verfolgt wurde. Außer Landschaft sei damals nicht viel passiert.
Dazu kommt: Während Livestreams von wirklichen Ereignissen wie den Geschehnissen damals am Tahrir-Platz immer nur einen Ausschnitt des Geschehens bieten können, zeigt die Mannen-Live-Berichterstattung das, was nicht passiert, komplett. Allerdings nur, bis wirklich etwas geschieht: Auf eine Zuschauerfrage hin musste TV2 bereits einräumen, dass im Falle eines Steinschlags nur ein, zwei Sekunden live übertragen würden, da die Kamera fest installiert sei und automatisch arbeite. Den Bildausschnitt plötzlich zu vergrößern, sei leider unmöglich, da niemand an Ort und Stelle sei. Aber hören werde man den Steinschlag immerhin länger können, hieß es dazu weiter. Den weltweiten Mannen-Fans ist das aber sowieso egal, denn sie möchten viel lieber, dass der Berg noch lange steht und sie unterhält.
Mannen-Livestreams rund um die Uhr:
- http://tv2.no/nyheter/mannen-direkte
- http://nrk.no/video/direkte_bilder_fra_fjellet_mannen/5706262AB71FF923
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Dies ist ein Gastbeitrag von Elke Wittich (@elquee), der zuerst in der Jungle World erschien und den wir hier mit freundlicher Genehmigung der Autorin veröffentlichen. Merci! Der Beitrag steht nicht unter Creative Commons.