Gestern gab es eine Großdemonstration in Paris. Die Gewerkschaften sprachen von einer Million Teilnehmenden. Die Polizei von 80.000. Spiegel Online von „Tausenden“. Demozahlen sind politisch, sie sind eine wichtige Währung sozialer Bewegungen.
Hunderte, Tausende, Zehntausende?
Es ist interessant zu sehen, wie unterschiedlich das gleiche Medium die Angaben „Zehntausende“ und „Tausende“ verwendet. Als in Island nach den Panama Papers zwischen 15.000-25.000 Menschen demonstrieren, sind das für Spiegel Online „Zehntausende“. Die gestrigen 80.000-1.000.000 Teilnehmer bleiben jedoch „Tausende“. Natürlich ist das nicht falsch, denn „Tausende“ geht immer ab 2.000 Menschen und ist nach oben offen. Die richtige Einheit wäre jedoch „Zehntausende“ gewesen. Die kann man ab mindestens 20.000, besser 30.000 Menschen nehmen. Bei 80.000 ist das auf jeden Fall die richtige Maßeinheit, die zum Beispiel von der Agentur Reuters verbeitet wurde. Wichtig für die Information der Leser ist in jedem Fall, dass Journalisten die Zahlen von Polizei und Veranstaltern veröffentlichen.
Teilnehmerzahlen beruhen in der Regel auf Schätzungen, Erfahrungswerten, Füllung von Plätzen und Quadratmeterberechnungen sowie auf Durchzählen der Reihen einer laufenden Demonstration. Alle diese Methoden sind so ungenau, dass eine Teilnehmeranzahl immer nur ein Näherungswert sein kann. Wichtig ist zudem der Zeitpunkt, wann die Zahl erhoben wird. Beginnt eine Demo um 14 Uhr und ich zähle Punkt 14 Uhr, wird die Zahl in der Regel niedriger sein als eine halbe Stunde später. Zähle ich bei einer lange dauernden Demo erst bei der Abschlusskundgebung kann die Zahl hingegen wieder niedriger sein als in der Mitte der Demo.
Die Berliner Faustregel
Es gibt also viele Faktoren, die eine Zahl beeinflussen können. Hinter vorgehaltener Hand sagte ein Berliner Polizist, der regelmäßig auf Demonstrationen in der Funktion „Kontakt zum Veranstalter“ arbeitete, dass die wirklichen Teilnehmerzahlen einer linken Demo in der Hauptstadt sich so errechnen: „Die Zahl der Polizei und die Zahl des Veranstalters addiert und dann durch zwei geteilt ergibt die Zahl derer, die wirklich da waren“.
Nun mag das auch wieder ein Schätz- und Erfahrungswert sein und die Zahl der Polizei je nach eingesetzter Zähltechnik und politischer Präferenz variieren, dennoch gibt diese persönliche Aussage des Polizisten – neben zahlreichen Erfahrungswerten – einen weiteren Anhaltspunkt, dass Polizeizahlen in der Regel niedriger sind als die der Veranstalter. Der Veranstalter hingegen versucht natürlich die Zahl nach oben zu manipulieren, weil sie die Währung der Relevanz seiner Demo ist.
Bei rechten Demos in Sachsen, die anfangs in Dresden immer sehr hohe Teilnehmerzahlen der Polizei bekamen, hat sich mittlerweile eine Initiative wie „Durchgezählt“ gegründet, die mit unterschiedlichen Methoden die Teilnehmendenzahlen ermittelt.
Wie und wann kommuniziert man als Veranstalter welche Zahlen?
Wer eine Demonstration macht, die es in die Presse schafft: Es ist sehr wichtig, dass der Veranstalter schon zum Auftakt der Demonstration eine Zahl nennt. Nachrichtenagenturen wie die dpa erfragen aus Zeitdruck oftmals bei der Polizei die Anzahl der Menschen zum Auftakt einer Demonstration. Da Zuspätkommen und Dazustoßen bei Demonstrationen gang und gäbe ist, ist diese Zahl fast immer die Niedrigste – und damit unvorteilhaft für den Demoveranstalter. Wird hingegen die Veranstalterzahl frühzeitig kommuniziert, wird diese meistens in Relation zur Polizeizahl gesetzt und wirkt somit als Korrektiv. Gibt es keine Veranstalterzahl, wird die Presse in den meisten Fällen die Zahl der Polizei kommunizieren. Außer sie kommt mit Reportern vor Ort zu einem anderen Ergebnis.
Für die Kommunikation im Vorfeld einer Demonstration gilt: Tief stapeln. Wenn ich 5.000 Menschen realistisch erwarte, dann lohnt es sich in der Presse und bei der Anmeldung von 1.500 auszugehen. Wenn die 5.000 wirklich kommen, dann heißt das für die Kommunikation: „Dreimal mehr Personen als erwartet kamen auf die Demonstration“, das gibt dem Anlass der Demo eine besondere Brisanz. Und auch im umgekehrten Fall ist hier Tiefstapeln gut. Wenn ich mich verrechnet habe und statt der 5.000 nur 2.000 kommen, habe ich immer noch mehr Teilnehmer als erwartet. Ganz schlecht ist die Situation, in der es heißt: „Der Veranstalter erwartete 5.000, es kamen aber nur 2.000“ – hier wird die Demo und ihr Ziel dann irrelevant.
Böse Falle: Jährliche Demonstrationen
Problematisch sind auch Demonstrationen, die jedes Jahr stattfinden, wie die Hanfparade oder Freiheit statt Angst. Hier geraten die Veranstalter jedes Jahr erneut unter Druck, weil die Angabe der Teilnehmerzahlen sofort eine Aussage ist: „Im Vergleich zum Vorjahr kamen nur…“. Diese Meldung bedeutet: das Thema ist durch und interessiert weniger als zuvor. Das führt zu der skurrilen Situation, dass Teilnehmerzahlen hochgelogen werden und die Zahlen dann unrealistisch werden, obwohl es sich um eine große Demo handelt. Hiergegen hilft aus PR-Sicht, im Vorfeld niedrigere Erwartungszahlen zu kommunizieren und sich dann über den doch großen Zustrom zu freuen.
Gibt es eine Lösung?
Es gibt verschiedene Ansätze wie die Zahlen unabhängig besser überprüft werden können. Drohnenaufnahmen und dann auf den Bildern Durchzählen und Hochrechnen sind eine Variante, die sehr gute Anhaltspunkte gibt. Für Veranstalter hingegen ist wichtig, dass sie frühzeitig und fortlaufend nachvollziehbare Zahlen kommunizieren, damit sie im Wettlauf mit der Polizeizahl ihr Korrektiv liefern. Idealerweise machen Veranstalter auch transparent, wie sie auf die Zahlen gekommen sind. Journalisten hingegen sollten nicht die ersten Agenturzahlen oder die reinen Polizeizahlen übernehmen, sondern immer auch die Zahl des Veranstalters kommunizieren – und dann, falls möglich, eine eigene Einschätzung liefern. Einfach ist das alles nicht, aber viele Fehler sind vermeidbar.