Tiflis schreibt Techno- und Protestgeschichte

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Zum Höhepunkt tanzen etwa 10.000 Menschen zu fetten Bässen vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis. Unter dem Motto „We dance together, we fight together“ wurden schon am Nachmittag Redebeiträge gehalten. Immer mehr Menschen strömen aus der ganzen Stadt herbei. Gegen 18 Uhr fordert jemand über Lautsprecher auf, den ehrwürdigen und vielbefahrenen Rustaveli-Boulevard zu besetzen. Dort steht noch eine Polizeikette, die sich unter dem Druck und dem Jubel der Menschen zurückzieht. Jemand schwenkt eine alternative Georgienflagge mit Friedenstauben statt Kreuzen, auf der Bühne wird der Rücktritt des Premiers und des Innenministers gefordert. Dann wieder Musik, die buntgemischte junge Meute trotz dem einsetzenden Regen und Wind. Es fühlt sich an wie alternatives Festival. Überall nette Gesichter, Lachen, Grinsen, Arme in die Luft. Tiflis schreibt heute Techno- und Protestgeschichte mit einer der größten Protestaktionen, die jemals auf eine Razzia eines Clubs gefolgt sind.

Die Stadt hat seit einigen Jahren ein ziemlich umtriebiges Nachtleben mit Techno-Clubs und einer Szene, die auch, aber nicht nur durch den regen Austausch mit Berlin entstanden ist. Techno ist in Tiflis politischer als anderswo.

Im krassen Gegensatz zum florierenden Nachtleben, hat Georgien eine der härtesten Drogengesetzgebungen Europas. Mehr als 200 Substanzen sind im kleinen Kaukasusland verboten. Bei etwa 150 dieser Substanzen spielt es für die Bestrafung keine Rolle, wie groß die bei einer Person festgestellte Menge ist. Das führt dazu, dass Menschen wegen kleinster Mengen für Jahre ins Gefängnis wandern. Ein Drittel aller Menschen im Knast sitzt wegen Drogendelikten. Gegen diese Drogenpolitik gibt es seit Jahren Proteste, unter anderen vom Netzwerk White Noise, das auch Teil der Aktionen vom 12. Mai war.

Die Drogenpolitik Georgiens hat offenbar auch dazu geführt, dass immer wieder gefährliche Nischendrogen im Umlauf sind. Auf eine erste Heroin-Welle Ende der Neunziger Jahre folgte eine Subutex-Epedemie, derzeit sind es wenig erprobte Research Chemicals, die auch Todesopfer fordern. Kaum erforschte Psychodelika, werden als BIO-LSD verkauft, es gibt auch BIO-Hasch, BIO-Ecstasy. Nur mit BIO hat das alles wenig zu tun, denn auf das Konto unbekannter Drogen gehen mehrere Todesopfer in den letzten Monaten.

Das nahm die Regierung als Anlass, eine schon auf den Weg gebrachte Reform der Drogenpolitik auf Eis zu legen – und gegen die Clubs vorzugehen. Praktischerweise kann sie damit klerikale, rechte und rechtsradikale Gruppen beruhigen, denen die freizügigen Clubs und die offene Atmosphäre für LGTBIQ ein Dorn im Auge sind. In einem Land, in dem im Parlament ernsthaft über das Verbot von Noppenkondomene gestritten wird, sind Techno-Clubs und Raver wirkliche politische Gegner.

In der Nacht vom 11. Mai durchsuchte die Polizei mit Spezialeinheiten und dem Segen des Innenministeriums die beiden bekannten Clubs „Bassiani“ und „Café Gallery“. Bei diesem martialischen Einsatz stürmte die Polizei mit Maschinengewehren die Clubs und schüchterte das fassungslose Publikum ein. Der Razzia folgten Spontandemos in Richtung Parlament, welche die Polizei mit Gewalt auflöste. Am Ende verkündete die Polizei, dass sie im Rahmen der Maßnahme acht Dealer festgenommen habe. Mittlerweile stellt sich heraus, dass die Festnahmen zuvor und anderer Stelle stattfanden.

Etwa 150 Menschen demonstrieren zeitgleich ihre Solidarität in Berlin.

Bei den Protesten geht es um mehr als nur die Razzien. Sie richten sich gegen einen konservativen Rollback, gegen Homophobie, gegen eine unmenschliche Drogenpolitik und auch gegen ein politisches System, das als korrupt und immer autoritärer wahrgenommen wird. Und es geht darum, zu zeigen, dass ein Rave vor dem Parlament möglich ist. Wenn ihr uns die Clubs nehmt, dann machen wir die Stadt zum Club. Musik als politische Aussage.

Ob die Proteste länger tragen als dieser geschichtsträchtige 12. Mai, der hoffnungsfroh eine mögliche Zukunft Georgiens offenlegte, wird sich in den nächsten Tagen zeigen. In den anderen großen Städten Batumi und Kutaisi gab es gestern kleinere Demonstrationen. International waren die Proteste wenig beachtet, auch wenn es in Berlin gleich zwei Solidaritätsdemos gab.

Vor dem Parlamentsgebäude stehen heute wieder mehr als 1.000 Menschen, aber es ist deutlich ruhiger als gestern. Wie es auch immer weiter geht: Tiflis hat gestern eine bewunderswerte Wut und Widerständigkeit gezeigt sowie einen Protest, der Politik und Spaß verbindet.

Es war mir ein Fest, dabeigewesen zu sein.

Update:
Am 13. Mai gingen die Proteste vor dem Parlamentsgebäude, allerdings mit deutlich geringerer Beteiligung, weiter. Rechte und rechtsradikale Gruppen mobilisierten zu Gegenprotesten, was zur Situation führte, dass die Demonstranten am Ende am Parlament von den Rechten eingeschlossen waren. Die Polizei reagierte, indem sie den Rechten Wasserwerfer und Riot-Cops entgegenstellte. Die Rechten versuchten immer wieder die Polizeikordons zu durchbrechen, während die Demonstranten vor dem Parlament zur Ruhe aufriefen.

Insgesamt kann man das Vorgehen der Polizei als sehr besonnen und versammlungsfreundlich beschreiben, sie versuche beide Versammlungen zu gewährleisten. Gegen 23 Uhr kündigte der georgische Innenminister an, mit den progressiven Demonstranten reden zu wollen. Kurz danach kam der Innenminister am Parlament an und eine Delegation der Demonstranten traf sich mit ihm für etwa eine Stunde im Parlamentsgebäude.

Als einer der Organisatoren die Verhandlungsergebnisse vorstellte, kam es zu Unruhe, Streit und Buhrufen auf Seiten der Demonstranten, denen die vereinbarte Untersuchung der Razzien zu wenig war. Zeitgleich versuchten die Rechtsradikalen einen weiteren Durchbruchsversuch. Dann trat der Innenminister selbst an das Mikrofon der Demontranten. Die Menge skandierte „Entschuldigen!“. Der Innenminister entschuldigte sich für die Razzien und für die Polizeigewalt, versprach eine Untersuchung der Vorfälle und eine Wiederaufnahme der Liberalisierung der Drogenpolitik. Dies führte zu gemischten Reaktionen bei den Demonstranten, die am Tag zuvor noch den Rücktritt des Ministers gefordert hatten.

Veeinbart wurde ein weiteres Treffen der Demonstranten mit dem Minister heute, sowie eine Untersuchung der Razzien innerhalb von einer Woche. Die Demonstranten beendeten damit die Proteste vorerst und kündigten eine weitere Demonstration für den kommenden Samstag an. Weil das Gebäude immer noch von Rechtsradikalen umringt war, zogen die Demonstranten durch das Parlament ab und wurden mit gelben Bussen in Sicherheit gebracht.

Bis etwa 2 Uhr nachts versuchten die Rechtsradikalen noch auf den Platz vor dem Parlamentsgebäude zu gelangen, was die Polizei verhinderte. Ein Versuch des Innenministers und des Bürgermeisters von Tiflis, die Rechten zum Nachhausegehen aufzufordern, endete in Rangeleien.

Der Ausgang des Protestes wird in georgischen Medien unterschiedlich diskutiert. Manche sehen den Ausgang als Sieg der Regierung, die ein Ausweiten der Proteste verhindern konnte. Andere sehen es als Erfolg der Jugendbewegung an, dass sie den Innenminister zu verbalen Zugeständnissen und einer Entschuldigung gebracht haben.

In Deutschland ist jedenfalls noch kein Fall bekannt, in dem sich ein Innenminister dem Druck der Straße beugt und sich bei Demonstranten für das Vorgehen seines Ministeriums und der Polizei entschuldigt.

Ein Kommentar

  1. Lars Hachmann says:

    Sehr guter Artikel, der die Situation in Georgien gut darstellt. Kenne das Land seit 2009 und erlebe die Veränderungen in dem Land durch regelmäßige, jährliche Besuche hautnah. Der wachsende Einfluss der Kirche sorgt zunehmend dafür, dass extrem konservative Bewegungen entstehen, die sehr argwöhnisch betrachten was besonders in Tbilisi und Batumi an Clubkultur entsteht. Meiner Meinung nach hat der Autor gut erkannt, daß die Razzien sich eigentlich gegen die LGBTIQ-freundliche Haltung der Clubbetreiber richtet und das Thema Drogen nur vorgeschoben wurde. Trotzdem hat das Land sich sehr positiv entwickelt in den letzten Jahren und ist mehr als eine Reise wert. In diesem Sinne „Sarkatvelos gaumajos“ (ein Prost auf Georgien)

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