Interview mit Xenia Lotus*, Politikwissenschaftlerin und Soziologin aus St. Petersburg über die Protestbewegung in Russland, über Putins neue Repressionen, die Wichtigkeit des Internets und was Aktivisten hier für die russische Opposition machen können. Die englische Originalversion des Interviews gibt es weiter unten.
Wie bewertest Du die Proteste vom 12. Juni? Waren sie ein Erfolg?
Die Demonstrationen vom 12. Juni sind ein bisschen hinter den Erwartungen zurück geblieben. Die Organisatoren hatten auf mehr Teilnehmer gehofft. In Sankt-Petersburg waren es etwa 5000 Teilnehmer, in Moskau zwischen 30.000-40.000. Die Polizei gab eine Zahl von 25.000 an.
Trotzdem war der „Marsch der Millionen“ ein wichtiges Datum für die russische Protestbewegung, da sich neue Gruppen von Demonstranten den Protesten angeschlossen haben. Es gab zum Beispiel einen großen Block aus dem Bildungsbereich: Lehrer, Studierende, Professoren und Personal aus dem Bildungssektor. Neu auf den Protesten waren auch Teilnehmer aus dem Gesundheitssektor.
Dass sich jetzt noch weitere gesellschaftliche Gruppen anschließen ist ein gutes Zeichen für die Opposition, weil es zeigt, dass sich die Bewegung von der Forderung nach fairen Wahlen zu etwas größerem und grundlegenderem transformiert. Das wurde auch durch neue Slogans und Parolen deutlich: es gibt jetzt Forderungen nach sozialer Gerechtigkeit, nach Gleichberechtigung in Bildung und Gesundheit. Und die Leute sind bereit gegen die Kommerzialisierung der Öffentlichkeit zu kämpfen.
Vor diesem Hintergrund würde ich die Demonstrationen als Erfolg werten. Der Protest ist nicht vorbei, er macht eine Transition durch und bald werden wir sehen, wohin das führt.
Wie haben sich die Hausdurchsuchungen gegen Mitglieder der Opposition auf die Proteste ausgewirkt?
Es gab sehr viele Informationen zu diesen Maßnahmen im Netz und die Menschen waren richtig wütend über die KGB-Methoden der Regierung. Andere Mitglieder der Opposition haben Vorsichtsmaßnahmen gegen weitere Hausdurchsuchungen vorgenommen und sind nun vorbereitet. Das war mein Eindruck bei Aktivisten in St. Petersburg. Ich würde nicht sagen, dass die Leute jetzt eingeschüchtert sind, sie waren vielmehr irritiert und vor allem empört.
Die deutsche Öffentlichkeit weiß recht wenig über die Proteste. Ist die Bewegung konzentriert auf die großen Städte oder gibt es auch Proteste auf dem Land? Welche gesellschaftlichen Gruppen tragen den Protest, welche politischen Gruppen sind involviert?
Sicherlich sind die Zentren des Protestes die großen Städte wie Moskau und St. Petersburg, aber während der letzten sieben Monate des Protestes gab es überall in Russland Aktionen. So fanden zum Beispiel beim ersten großen Aktionstag am 10. Dezember 2011 in 99 Städten Demonstrationen statt. Die russische Bewegung hat die Strategie gleichzeitiger Protestwellen und Aktionstage genutzt und versucht dabei soviele Städte wie möglich zu involvieren, sogar Kleinstädte mit 10.000 Einwohnern.
Ich glaube nicht, dass es eine größere Agitation in ländlichen Gegenden gibt, dennoch gibt es interessante Erkenntnisse über die Dörfer. Ich arbeite in einer ethnografischen Forschungsgruppe und wir haben in Dörfern in Südrussland geforscht. Dabei haben wir sehr viele Interviews geführt mit älteren Menschen über ihr Leben im und nach dem Zweiten Weltkrieg. Sehr oft haben diese Menschen nach Ende des Interviews angefangen, sich über die Regierung Medvedev/Putin zu beschweren. Unsere Erfahrung war, dass die Mehrheit der ländlichen Bevölkerung – entgegen der offiziellen Nachrichten – gegen Putins Partei „Einiges Russland“ ist. Hier gibt es also durchaus noch ein Mobilisierungspotenzial. Das Problem ist, dass die ländlichen Gebiete und ihre Bevölkerung oft keinen Zugang zum Internet haben, deshalb wissen viele Leute auch gar nicht, wo überhaupt eine Demonstration stattfindet.
Was die Zusammensetzung der Protestbewegung angeht, würde ich sagen, dass ganz am Anfang die so genannte „Kreative Klasse“ – also gut-gebildete Menschen, die in IT, Journalismus, Design, Wissenschaften, im Technologie- und Bildungssektor und manchmal auch in der Wirtschaft arbeiten – den Kern der Bewegung gebildet haben. Das Durchschnittsalter liegt irgendwo zwischen 20 und 40 Jahren, mit einer signifikanten Anzahl von Studierenden. Bislang gab es kaum Arbeiter bei den Protesten. Die Fabrikarbeiter wurden ganz im Gegenteil oft auf Pro-Putin-Demonstrationen gesehen, zu denen sie oftmals gezwungen wurden und manchmal auch mit Geld gelockt.
Was die politischen Gruppen angeht, ist die Opposition auf der Straße sehr interessant. Von Anfang an hat die Bewegung reklamiert, dass sie „über allen Ideologien“ steht und hat versucht, die Menschen gegen einen gemeinsamen Feind („Einiges Russland“) zu vereinigen. Die Menschen in Russland haben das Vertrauen in die existierenden politischen Parteien verloren. Alle offiziellen Parteien wurden dafür verantwortlich gemacht, die Menschen zu betrügen. Deswegen ist auch einer der populärsten Slogans der Bewegung „Ihr repräsentiert uns nicht einmal!“. Die Kritik richtet sich also gegen das Prinzip der Repräsentanz, gegen die repräsentative Demokratie und die Delegation von Macht. Am Anfang der Bewegung hatten wir diesen kleinen Moment von dem, was ich „natürlichen Anarchismus“ nenne. Die Leute haben die Basis von Macht, von Regierung und von Staatlichkeit in Frage gestellt. Sie haben alles angezweifelt und waren bereit für einen kompletten Systemwechsel.
Aber sehr schnell haben politische Gruppen angefangen Kontrolle über die Bewegung zu übernehmen und die Proteste zu kanalisieren und auch für ihre politischen Ziele zu nutzen. Es gab einen starken Einfluss von rechten Gruppierungen und von Nationalisten. Aber der „gefährlichste“ Einfluss kam von den Liberalen wie LDPR, Jabloko und ParNas. Sie haben es geschafft, die spontane Wut, den Ärger und den Ruf nach sozialem Wandel in etwas unbestimmtes und weniger radikales zu wandeln. Linke Gruppen waren zwar auch von Anfang an dabei, aber zu marginal um einen größeren Einfluss auf die Bewegung zu haben. Dennoch haben linke Organisationen seit dem Beginn der Proteste starken Zulauf.
Das autoritäre Putinregime hat gerade das Demonstrationsrecht verschärft. War der Effekt dieses Gesetzes auf den letzten Demos schon zu spüren?
Ja, man spürt dieses neue Gesetz, aber vor allem spürt man die Reaktion der Leute. Sie scheinen Angst vor dem Gesetz zu haben und überlegen zweimal, ob sie auf eine Demonstration gehen – auch wenn diese legal ist. Das ist wichtig. Dieses Gesetz schafft einen Zusammenhang zwischen Demonstration und Strafe. Die Menschen werden einige Zeit brauchen, um zu wissen, wie das Gesetz funktioniert und umgesetzt wird. Dann werden sie neue Formen des Protestes entwickeln. Der einzige positive Effekt des Gesetzes ist, dass es unsere Phantasie anregt, die Menschen fangen an neue Aktionsformen zu entwickeln und ich denke, dass sie sehr weit damit gehen.
Was werden Deiner Meinung nach die nächsten Schritte der Putinregierung sein, die Proteste zu bekämpfen?
Putin kann jetzt die existierenden Strukturen des „Kampfes gegen den Extremismus“ weiter stärken. Er kann diesen Strukturen mehr Macht einräumen und eine Taktik der „unsichtbaren Repression“ gegen Aktivisten und ihre Familien umsetzen. Momentan nutzen sie geheimdienstliche Methoden wie die Infiltration von Organisationen der Opposition. In meiner Organisation haben wir genau diese Methoden in letzter Zeit erlebt: das Ausspähen der Organisation und ihrer Mitglieder. Dazu werden sie die Kontrolle über das Internet weiter stärken, das wird ein großer und mächtiger Schritt für Putins Diktatur sein.
Wie können Leute hier die Opposition unterstützen? Oder wird eine solche Unterstützung in Russland gegen die Protestbewegung genutzt?
Ihr könnt die Opposition vielfältig unterstützen. Eines der ersten Dinge sind Workshops und Anleitungen zum Thema Internetsicherheit und sichere Kommunikation. Trotz der großen Reputation russischer Hacker, wissen hier die Aktivisten nichts über die einfachsten Regeln sicherer und anonymer Kommunikation im Netz. Hier wäre eine Einladung russischer Aktivisten zu internationalen Treffen sehr nützlich, um sich nicht nur über Internetsicherheit, sondern auch neue europäische Protestformen auszutauschen. Ein weiterer Punkt sind mehr Übersetzungen von Nachrichten aus Russland ins Deutsche und eine Verbreitung derselben. Außerdem können Aktivisten in Deutschland Solidaritätsproteste organisieren, Briefe an Amnesty schreiben und vieles mehr. Auch hilft uns, wenn ihr Druck auf die deutsche Regierung macht, damit sie diplomatisch auf Russland einwirkt.
Ich mache mir überhaupt keine Sorgen um die Reputation und den Ruf unserer Bewegung. Es ist Putin der Angst um die Meinung der internationalen Öffentlichkeit haben muss, er ist abhängig von Weltmärkten und Banken – deswegen habt ihr einen starken Einflusshebel in der Hand. Nutzt ihn!
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* Name geändert
Foto: CC-BY-ND Person behind the scenes
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Englische Originalversion:
Interview with Xenia Lotus*, political sociologist, Saint-Petersburg
How were the protests of the 12th of June from your perspective? Were they a success?
The rally of 12th June did not manage to gather a significant number of participants, though the aspirations of the organizers had been more optimistic. In Saint-Petersburg we speak about 5000 participants, while in Moscow from 30.000 to 40.000 according to the organizers and 25.000 according to the police.
However, this “Millions’ march” was an important date for Russian movement as during this march we had seen new groups of protesters coming out on the streets. First of all, there was a big column of members of educational community: teachers, students, professors and other personal connected with the educational system. The second group was composed with medical community: doctors, veterinaries etc.
The appearance of these groups on the rally is a good sign for Russian movement, as it signifies that the protest “for fair elections” has transformed into something more important and more fundamental. Now we hear new kind of slogans on the streets: people demand equal rights on education and medical help, they demand social justice and seem to be ready to fight against the commercialization of public sphere.
In this context, I think that the rally had a good result. The protest is not over, it is living through its transitional phase, and we will soon be able to see the results of these mutations.
What impact had the raids / house searches against opposition members on the protests?
There was a lot of information on the Web about it, and people were really angry about these “KGBist” methods of our government. Other opposition members have undertaken some measures of security to prevent the potential raids, for example, in Saint-Petersburg people were more or less prepared to the house searches. I would not say that people were afraid, no, they were irritated and “indignated” against it.
German audience has only little idea about the protests. Is the movement concentrated on big cities or is there unrest throughout the country and even in rural areas? What kind of people/ branches of society and political groups are involved?
The strongest impact of the movement is, surely, on the big cities (Moscow, Saint-Petersburg), but during all the 7 months of the protests (from December to June) there were actions organized across all the country. For example, the first big rally of 10th of December 2011 had taken place in 99 Russian cities. Russians have adopted the strategy of simultaneous “waves of actions”, trying to involve as many cities as possible, even the small ones with only 10 or 30 000 inhabitants. I don’t think there’s a big agitation in rural areas, however, I have an interesting data about villages. I am working for an ethnographic research group and we are travelling across the little villages in the south of Russia. We make interviews with old people about what they had lived through during the Second World War, and very often when the interview is over, they start complaining and blaming Putin’s and Medvedev’s government. The big part of the habitants of rural areas is, contrary to what the official news say, against the “United Russia”. So, may be if we had more impact on the rural zones, we could have mobilized this part of population also. The problem is that they do not have access to the Internet, so they often even don’t know that a rally is going on somewhere.
Concerning the groups and branches of society involved in the protest, I would say that, in the very beginning the core of the movement was composed by the members of what is called “creative class”: well-educated people who work in the sphere of IT, journalism, design, science and technologies, sometimes in business, tourism, education or medicine. The average age is from 20 to 40 years old, with a significant number of students. But we did not see any “proletarians” in the movement, or just a few. People who work on the factories were mainly engaged in pro-Putin’s demonstrations, they were not only forced to come to the pro-Putin’s rallies, but sometimes they were even paid to do it.
Speaking about the political groups involved, the movement seems very interesting. From the very beginning the movement reclaimed itself “above all the ideologies”, trying to unite people against a common enemy (“United Russia”). People lost confidence for the existing political parties, all the official parties were blamed for having betrayed the people. Thus, the most famous slogan of the movement was “You don’t even represent us”, criticizing the main principle of political representation, representative democracy and delegation of power. So, in the beginning of the movement, we had this tiny moment of “natural anarchism”, as I call it. People were questioning the basis of power, of governance, of state. They doubted in everything, ready to transform the system, to put it from legs to the head.
But very quickly some political forces put their control over the movement and began canalizing it, using it as a means for their own political ends. There was a strong influence of right-wing groups, nationalists, but the most “dangerous” was the impact of liberals (“LDPR”, “Yabloko”, “ParNas”). They have managed to transform people’s affect (anger, sentiment of injustice, aspiration for a social change) into something very mild and undetermined, easy to manipulate. The left was also there, but, taking into consideration its insignificant number, their influence was not that important. However, after the end of the movement, new people joined the left organizations.
The authoritarian Putin government imposed a repressive new law on the right to demonstrate. Did you feel first effects of this law on yesterdays protests?
Yes, we feel the effect of this law, and, first of all, we see people’s reaction. They seem to be afraid and they will now think twice before going on a rally, even if it is legal! That’s important! This law creates kind of false sing of equality between a rally and a penalty. People will need some time to understand how the law works and to build up new ideas of actions. I think, the only positive effect of this law is that it really stimulates our imagination, people start inventing new forms of protest and I think, they will go very far.
What do you think are the next steps of the Putin regime to fight the protests?
Well, he can enforce the existing structures fighting “against extremism”, he can give them more power and start a kind of “invisible repressions” over the activists and their families. Now they use tactics of spying, entering the organizations of opposition and secretly observing their activity from the inside. I had witnessed it in my organization and I know they can go very far. I think they will enforce the control over the Internet and this will be a very strong and big step of Putin’s dictatorship.
How can people here support the movement? Or do you think western support will be used against your movement?
You can support the movement in many ways. The first thing you could do is to help us by giving workshops on the Internet security. Regardless the reputation of Russians as the best pirates and hackers, simple activists here still do not know the basic rules of Internet security. So I think you could organize more international meetings on this topic and invite Russian activists so that they can spread European techniques of protest and skills of security. Other thing you can do is to translate more news on Russian protests from Russian to German and share it everywhere on the web. You could also organize actions of solidarity and write letters to the Amnesty International or other structures of this kind. You could try to make a pressure on the German government to organize a kind of diplomatic boycott to Russian government (not to the people but to the representatives of the power). And I am not at all worried about the “reputation” of our movement. Because Putin is afraid of international opinion, he is dependant from the world market and banks, so you, Europeans, have a trigger of influence in your hands.
Die Befreinungsschreie der Bevölkerung sind ja wohl kaum noch zu überhören. Insbesondere Intelektuelle werden aus dem Land auswandern, wenn sie nicht bald erhört werden, da viele von ihnen ihre Zukunft einfach nicht in einem Land sehen, das nicht frei ist und somit keine Möglichkeiten zur freien Persönhlichkeitsentwicklung bietet. Das wiederrum hat natürlich Asuwirkungen auf die gesamte Gesellschaft und dann auch auf wirtschaftliche Bereiche. Ich finde das Buch „Die russsiche Frage“ ziemlich gut und möchte es in dem Zusammenhang gerne epmofehlen, da es sich genau damit auseinandersetzt. http://die-russische-frage.de/