Politikerverdrossenheit: Mehr Zufall wagen!

CC-BY-NC Duca di Spinaci

Nach den Landtagswahlen in Thüringen und Brandenburg mit jeweils nur um die 50% Wahlbeteiligung, kommt die altbekannte Diskussion um Politik(er)verdrossenheit auf. Es könne ja nicht angehen, dass die Leute nicht wählen gehen, die Demokratie sei in Gefahr. So manch einer will gar die Wahlpflicht einführen, um wahlweise die Demokratie zu retten oder den Parteien etwas mehr Legitimität einzuhauchen.

Alles Quatsch!

Wer frustriert von den Parteien ist, kein Bock auf unser politisches System hat, keine Lust verspürt zum Wahllokal zu laufen, der kann das eben auch gerne tun. Denn auch Nichtwählen ist eine politische Ausdrucksform, auch wenn sie sich nicht in der Parlamentszusammensetzung niederschlägt.

Und genau da setzt eine Idee an, die ein Freund vor etwa einem Jahr ins Rennen brachte:

Der Prozentsatz der Nichtwähler wird direkt den zu verteilenden Sitzen im Parlament den Parteien abgezogen. Nehmen wir das Brandenburger Ergebnis: 52,1 Prozent Nichtwähler. Das Parlament hat 88 Sitze. Alleine 46 Sitze gehen also an die Nichtwähler, die Parteien teilen sich die restlichen 42 Sitze. Die 46 Sitze der Nichtwähler werden jetzt unter allen wahlberechtigten Einwohnern verlost. Oma Trude aus Wittstock-Dosse bekommt einen, Malermeister Machulke aus Potsdam, die alleinerziehende Jenny Piaspa aus Bad Freienwalde und so weiter.

Diese 46 gelosten Personen sind allesamt keine Politikprofis, nicht homogen und bilden im Idealfall einen Querschnitt der Gesellschaft. Die neue Sitzverteilung ergäbe also 46 geloste Nichtwähler, 15 SPD, 10 CDU, 8 Linke, 5 AfD, 3 Grüne, 1 BVB/FW. Die Nichtwähler haben theoretisch eine komfortable Mehrheit.

nichtwaehlerparlament

Natürlich gibt es in so einem System viele offene Fragen: Wie organisieren sich die Nichtwähler-Abgeordneten? Können sie Fraktionen bilden? Können sie zu anderen Parteien in die Fraktion? Wie wird Parlaments-Know-How an die Nicht-Profis weitergegeben? Besteht die Gefahr, dass die Nichtwähler-Abgeordneten beeinflussbarer sind als die Partei-Abgeordneten? Wird ein System wechselnder Mehrheiten etabliert? Ist das ganze viel zu instabil? Sind geloste Abgeordnete überhaupt dem Bürger verpflichtet? Bedeutet das System einen Machtzuwachs für die Administration/Minsterien? Kann man Menschen einfach so für eine Legislaturperiode aus ihrem Leben reißen?

Eines ist jedoch gewiss: Der Ansatz des Losens von Abgeordneten ist mindestens genauso demokratisch wie die Wahl von Parteien und Personen. Losen wirkt der Überrepräsentanz bestimmter Berufsgruppen und der Elitenbildung vor. Das Modell könnte frischen Wind und endlich ganz normale Leute ins Parlament bringen. Und ganz neue Erfahrungen und Identifikationen mit der Demokratie hervorbringen. Zudem sind die gelosten Abgeordneten nicht auf ihre Wiederwahl aus, für Lobbygruppen lohnt es sich vermutlich nicht sich gefällige Abgeordnete aufzubauen.

Die Idee des Losens in der Demokratie ist übrigens nicht neu. Es wurde in Venedig und Großbritannien praktiziert und in den USA werden heute noch Richter und Geschworene durch das Los bestimmt.

Warum nicht also auch hier ein bisschen aleatorische Demokratie ins Spiel bringen?

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5 Kommentare

  1. Oliver says:

    Ich fände das großartig. Ich war immer ein großer Fan der Demarchie, vor allem weil die Chancen eine völlig inkompetente und lobbyhörige Regierung zu bekommen wie wir sie jetzt haben statistisch quasi ausgeschlossen ist.

  2. Martin Däniken says:

    Mir kam die alternative Geschichtsschreibung von L.Neil Smith(Liberterianer) mit seinem Gallatin-Universum in den Sinn, wo auch Gorillas ((Chefs von Sicherheitsfirmen!) und Delfine wahlberechtigt sind.und weitestgehend der alte R.A. Heinlein Grundsatz gilt
    :“Nur eine bewaffnete Gesellschaft ist eine höfliche Gesellschaft…!“ Und in der die (nordamerikanische) Nationalversammlung sich nicht dauf einigen kann,wer President sein kann.weil man ihn eigentlich nicht braucht;-).ausserdem gibt es lockere Allianzen zwischen Leuten,die gemeinsam etwas tun wollen nicht weil sie müssen.
    Alles in allem ein nettes Idyll. Habe ich vor ca 25 Jahren mehrfach mit Genuss gelesen!

  3. Bernd says:

    „Besteht die Gefahr, dass die Nichtwähler-Abgeordneten beeinflussbarer sind als die Partei-Abgeordneten?“ – Ich lachte.

    An sich finde ich die Idee ganz töfte, da sie einer fairen Macht- bzw. Einflussverteilung näher kommt, als das Wählen von Menschen, die selber mindestens in der oberen Mittelschicht zu finden sind. Das ganze hätte etwas vom direkten Kommunismus, von der Anarchie – auch wenn es wiederum auf Zwang basiert und somit ad absurdum geführt wird.
    Ist es überhaupt logisch, den Wahlzwang zu verteufeln, aber ein gezwungenes Parlament zu wünschen? Was ist, wenn gerade diese Nichtwähler nicht nur keinen Bock auf diese Volksvertreter, sondern auch keinen Bock auf diese Demokratie haben?

    • John F. Nebel says:

      Unter den Nichtwählenden gibt es neben der Mehrheit der Desinteressierten bestimmt jede Menge Leute, die das System generell ablehnen. Aber auch deren Ablehnung kämen die gelosten Vertreter deutlich näher als die reine Repräsentanz durch Parteienvertreter.

      Was im Text nicht steht: Denkbar sind natürlich auch weitere demokratische Elemente: Volksabstimmungen, direkte Demokratie, usw.

  4. Philipp says:

    Ich hatte mal vor längerer Zeit einen vergleichbaren Gedanken. Ich dachte man könnte evtl. einen festen Prozentsatz der Sitze (sagen wir einfach mal 25% oder wieviel auch immer) durch Zufall bestimmen. Das Problem mit dem ich mich konfrontiert sah war die genaue Ausgestalltung.
    Sollte sich der mögliche Abgeordnete vorher registrieren oder sollte vorher ein Register sämtlicher Personen aufgestellt werden (durch Einwohnermeldeämter zusammengetragen) für die Registrierung spräche das nicht so viele Nachlosverfahren durchgeführt werden müssten durch Menschen die das Amt nicht annähmen. Allerdings eben auch den Nachteil dass gerade Menschen die desillusioniert von der Politik sind mit geringerer Wahrscheinlichkeit die notwendigen Formulare einrichen würden, was wiederum den eigentlichen Sinn des Losverfahrens ad absurdum führen würde. Daher müsste man wohl die Registerlösung vorziehen.
    Die Gefahr das so ein Parlament aufgrund des Anteils zumindest zum Zeitpunkt des Eintritts nicht parteigebundenden Mitgliedern aufgrund wechselnder Mehrheiten nicht in der Lage wäre vernünftig Politik zu gestalten sehe ich weniger allerdings würden sich diese Parlamentarier vermutlich zu großen Teilen bereits bestehenden Fraktionen anschließen (was durchaus auch begrüßenswert wäre solange diese dort ernstgenommen werden würden und nicht nur als willkommene Stimmen missbraucht würden) und würden zumindest teilweise gerne über die Wahlperiode hinaus Politik machen wollen was durch den ständigen Zustrom an neuen „Losparlamentariern“ einen Kampf mit harten Bandagen um die Listenplätze auslösen würde. Die Frage ob in so einer Atmosphäre ein konstruktiver Politikbetrieb überhaupt möglich ist müsste vorher natürlich ausgiebig debattiert werden. Wobei ich es grundsätzlich absolut begrüßen würde wenn Arbeitslosen, Prostituierten und anderen im Politikbetrieb marginalisierten Gruppen Teilhabe ermöglicht werden würde.
    Grundsätzlich finde ich den Gedanken die Anzahl der zu verlosenden Sitze an die Wahlbeteiligung zu koppeln durchaus interessant. Dadurch hätten die Volksvertreter einen größeren Anreiz alle gesellschaftlichen Gruppen vermehrt in ihre Arbeit einzubeziehen um einen weiteren Abfall der Wahlbeteiligung zu verhindern.

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