Bunt und entschlossen stürmen 5000 Menschen die gesperrte Wiese zwischen Reichstag und Kanzleramt. Sie errichten dort mehr als 100 symbolische Gräber für die an den europäischen Außengrenzen gestorbenen Flüchtlinge. Berlin hat mit dieser Aktion einen wunderschönen Akt des zivilen Ungehorsams erlebt.
Nachdem die Polizei den ursprünglichen „Marsch der Entschlossenen“ bis zur Unkenntlichkeit mit Auflagen belegt hatte, benannten die Aktionskünstler vom Zentrum für politische Schönheit diesen kurzerhand in den „Marsch der Unentschlossenen“ um und legten bewusst alle Verantwortung in die Hände der Teilnehmer. Und das war eine verdammt bunte Mischung aus Theatergängern, Altlinken, Hipstern, Linksradikalen, Schülern, alten und jungen Menschen, Familien und Leuten, die mal interessehalber vorbeischauten, was da passieren würde.
Diese Menschen setzten einfach fort, was das Zentrum mit den Beerdigungen in der Woche begonnen hatte und was ab Donnerstag mit den europaweiten symbolischen Gräbern zum Selbstläufer geworden war: Den massenhaften Tod von Flüchtlingen sichtbar zu machen und mitten in die Städte und Zentren der Macht zu tragen.
Das Besondere von zivilem Ungehorsam liegt in der bewussten Regelverletzung bei gleichzeitigem Konsens, eine gewisse Grenze nicht zu überschreiten. Ziviler Ungehorsam fordert sehr direkt sein Gegenüber heraus, indem dessen Regeln (in diesem Fall: Ihr dürft die Wiese nicht betreten, ihr dürft dort keine Gräber errichten, ihr dürft nicht in der Bannmeile demonstrieren) zur Beseitigung einer Unrechtssituation und unter Bezug auf die Moral bewusst missachtet werden.
Was auf der Reichstagswiese geschah, war ziviler Ungehorsam in einer sehr spontanen Form. Es brauchte nur 5.000 Entschlossene, Enthusiasmus, Momentum, Phantasie und ein paar Ideen. Viele packten kleine Schaufeln ein, andere Blumen und Kerzen. Wieder andere warfen spontan den Zaun um. Und auf einmal strömten alle auf die geöffnete Wiese (Video). Dort fingen Leute an Gräber zu graben. Andere stellten sich um die Grabenden. Als die Polizei kam, konnte sie vielfach nicht zu den Grabenden vordringen, weil diese völlig spontan und solidarisch beschützt wurden. Ein wunderschöner ungeplanter Selbstläufer, der allen Beteiligten (schelmische) Freude machte und ein Lächeln ins Gesicht zauberte.
Eine Stärke des zivilen Ungehorsam ist, dass sich hier Radikalität und Friedfertigkeit so verbinden lassen, dass ein Nebeneinander eigentlich sehr unterschiedlicher politischer Herangehensweisen möglich ist. Auch das war auf der Reichstagswiese direkt erfahrbar. Da saßen in einer Sitzblockade völlige Polit-Neulinge eingehakt mit Altautonomen. Diese solidarische Selbstorganisation in einer gleichermaßen bedrohlichen, chaotischen und euphorischen Situation, die alle Beteiligten obendrauf auch noch als politischen Erfolg erlebten. Das ist eben keine frustrierende Latschdemo, sondern Mitmachen und selbst in die Hand nehmen. Ziviler Ungehorsam ist Stinkefinger zeigen und Knutschen gleichzeitig – mit dem Ziel konkret politisch etwas zu verändern.
Die Aktion auf der Reichstagswiese zeigt nämlich auch: Da geht was, wir können etwas ändern, wenn wir wollen. Wenn wir uns trauen und wenn wir einfach machen.
Das ist ein überwältigendes Gefühl, eine Erfahrung, die diese 5.000 Menschen jetzt ins sich tragen. Aus ihr kann Veränderung entstehen. Erst Recht, wenn man endlich mal Stalins Aussage widerlegt hat, dass es in Deutschland keine Revolution geben könne, weil man dazu den Rasen betreten müsste.
Ziemlich treffender Artikel, dankeschön!