Stadtgeschichte von unten
Wie die Rohrpost Berlin eroberte

Harmonische Zeiten des Gemeinwesens liegen hinter uns verborgen im Sumpf der Geschichte. Wortlos durchforsteten unsere Ahnen ihres Nächsten Fell. Gegenseitiges Kraulen, so der Befund der Wissenschaft, ging der artikulierten Verständigung voraus. Mit Pergament, Papyrus und Papier erlangte dann bekanntlich die verbale Kommunikation ihre fixierte Form, ohne die heute die Welt nicht mehr zu denken ist. Unzählige Varianten der Informationsvermittlung künden seitdem von der Bedeutung der Botschaft. Es ist aber nicht der Inhalt allein, der zählt. Spätestens Marshall McLuhan machte uns mit seiner Formulierung "the medium is the message" aufmerksam auf die Stellung des Mediums selbst im kommunikativen Prozess. Genau dies mag auch Ingmar Arnold, Begründer des Vereins Berliner Unterwelten e.V., gedacht haben, als er sich dem Thema Rohrpost zuwandte. Mittlerweile hat er ein Buch geschrieben, veranstaltet Bunkerführungen im Berliner Untergrund und erinnert hier und da an die Existenz eines nahezu in Vergessenheit geratenen, technisch wie ästhetisch bahnbrechenden innerstädtischen Nachrichtensystems.

Die Stadtrohpost und ihre spektakuläre britische Vorfahrin die "Pneumatic Despatch Railway", die sogar den Transport von Menschen ermöglichte, beschreibt ein eigenes Kapitel Berliner Stadtgeschichte und zwar einer Stadtgeschichte von "unten", wie Arnold betont. 1865 erwirkte der preußische Oberpostrat Heinrich von Stephan die Einrichtung einer ersten Versuchsstrecke vom ehemaligen Haupttelegraphenamt in der Jägerstraße zur Börse. Entfernung 2,1 km. Der Versuchsaufbau lief so reibungslos, dass überzeugte Investoren in den folgenden Jahren den sukzessiven Ausbau des innerstädtischen Rohrpostnetzes umsetzten. Bald schon war die Rohr-Post zu einem populären, vielbenutzten und, weil zuverlässig, geschätzten Verkehrsmittel geworden. In ca. 60 cm Tiefe unter dem Pflaster verborgen eilten fortan die geheimen Nachrichten mit bis zu 30 Stundenkilometern ihrem Bestimmungsort entgegen. Ein Rohrpostbeamte verlud, leitete und entlud die "Bömbchen" und sorgte für das pünktliche Eintreffen der Briefe. Innerhalb von nur einer Stunde konnten so Informationen sicher ihren Besitzer wechseln - im oberirdischen Verkehrschaos der damaligen Zeit eine nicht zu erreichende Effizienz.

Verschroben liebevoll wird Ingmar Arnolds Ausdruck, wenn er vom Rot der "Rohrpostbrief-Briefkästen", das er, als sei dies eine feststehende Kategorie aus der Farbenlehre, "Rohrpostbriefkastenrot" nennt und vom "bleu" der Briefumschläge der Pariser Variante schwärmt. Oder vom sinnlichen Erlebnis des oberirdisch vernehmbaren Ploppens vorbeisausender Rohrpostzüge. Will man Arnolds Ausführungen glauben schenken, so muss jeder zweite Passant dabei in Entzücken ausgebrochen sein.

Ebenfalls einer, der die Rohrpost ins Herz geschlossen hat, ist Wolfgang Wengel vom Berliner Museum für Kommunikation. Als gelernter Nachrichtentechniker mehr der Mann fürs Konkrete präsentiert er fachmännisch die Reliquien des ehemals größten Rohrpostschalters der Hauptstadt im Keller des letzten Haupttelegraphenamts, dem heutigen Telekomgebäude in der Oranienburgerstraße. Große schwarze Ungetüme mit der ansprechenden Bezeichnung "Root’sche Verdichter" sorgten für Druckausgleich und Belüftung der 400 km Fahrrohre der Rohrpostanlagen. Sende- und Empfangsstationen, Sortierregale und moderne Relais zeugen vom lauten und hektischen Treiben an den Schaltern.

Frauen, so klärt Wengel auf, hatten bei der Reichspost die erstmalige Chance zur Verbeamtung auf Lebenszeit. Ab 1886 durften Frauen im gesamten Betriebsdienst der deutschen Reichspost tätig werden. Allerdings waren sie strengen Auswahlkriterien unterworfen, die sie zur Tätigkeit an einem der Schalter qualifizierte. "Zum Einen musste die Frau unbescholten sein", präzisiert Wengel. Darüber hinaus durfte sie weder Schulden noch Vorstrafe haben und musste ledig oder kinderlos verwitwet sowie über 1, 56 Meter groß sein. Waren alle Gesichtspunke erfüllt, so konnte der preußischen Frau beruflicher Emanzipation nichts mehr im Wege stehen, amüsiert sich Wengel.

Während des Dritten Reichs wurden sämtliche Nazi-Ministerien an das Netz der örtlichen Rohrpost angeschlossen. Man versprach sich diskrete und zuverlässige Vermittlung von Informationen und Dokumenten. Nach dem Zweiten Weltkrieg waren große Teile der Stadtrohrpost beschädigt worden. Bereits 1947 nahmen die Russen aber im Ostteil der Stadt die alten Anlagen wieder in Betrieb. Der Westen folgte wenig später. 1953 kam es schließlich zu einer strategischen Trennung in ein Westberliner und ein Ostberliner Netz. In den siebziger Jahren dann wurde das alt gediente Rohrpostsystem in beiden Teilen der Stadt zu Grabe getragen. Es kam zur endgültigen Ablösung durch das wesentlich effizientere Kraftfahrzeug, woraufhin die Rohrpost zunehmend in Vergessenheit geriet.

Heute, so sind sich Wengel und Arnold einig, ist es an der Zeit wieder aktiv an die Glanzzeiten dieser historisch herausragenden und technologisch maßgebenden Institution zu erinnern. Die Rohrpost war immerhin ein internationales Phänomen. Zudem ist die Netzstruktur der Stadtrohrpost noch heute Grundlage vieler Informationsnetzwerke – nicht zuletzt die des Internets.
Mit zunehmender Bedeutung des Untergrunds, die der Unterweltler Arnold auszumachen weiß, steigt auch die Notwendigkeit einer breit angelegten Auseinandersetzung mit dem Reich des ewigen Schattens. "Nichts läuft heute mehr ohne Untergrund", verkündet Arnold schnippisch. Winterstädte wie Montreal in Kanada z.B. haben regelrechte Untergrundstädte zur Versorgung ihrer Bürger errichtet.

Auch wenn der Stadtrohrpost wohl keine Zukunft beschieden sein wird: Es gibt heute bereits Projekte zur Güter- und Personenbeförderung im tiefen Erdinneren unter Verwendung der Rohrposttechnik. Werden wir wohl in ferner Zukunft in unerforschten Tiefen unseres Planeten reisen? Werden redliche, emanzipierte Frauen per Mausklick und dank Vakuumtechnik die entspannte Erddurchquerung ermöglichen? Werden "Root’sche Verdichter" zu den Porsches ihrer Art? Wird Ingmar Arnold als Retter der Rohrpost ins Lexikon aufgenommen? Fragen über Fragen!

Wer es weniger futuristisch mag, dem sei ein Besuch im Museum für Kommunikation oder eine ordentlich gruselige Untergrundführung des Vereins Berliner Unterwelten e.V. empfohlen - oder beim nächsten Besuch in der Stabi ein kurzer Blick an die Decke. Dort saugt und bläst sie nämlich nach wie vor die alte Hausrohrpostanlage. Wenn tausende von Bestellzetteln ihren Empfänger finden, kann ein System nicht irren!


Katharina Teutsch, 28.03.2002

Ingmar Arnold

Luft-Züge

Die Geschichte der Rohrpost in Berlin und anderswo
Verlag GVE 2000
DM 29,80 (Euro 15,24)



Historische Darstellung...


... und moderne Fotografie der Rohrpostanlagen

Mehr Infos:
www.Berliner-Unterwelten.de
www.museumsstiftung.de