Barbara Vines neuestes Werk

Strommasten, jene monströsen Stahlfiguren, die man oft von der Autobahn aus sehen kann, nennt Clodagh Brown ‚Heuschrecken’ und lebt an ihnen zusammen mit ihrem ersten Freund Daniel ihre Lust am Klettern aus. Als sie in London mit dem Studium an einer Fachhochschule beginnt und bei eher unsympathischen Bekannten ihrer Eltern eine Wohnung im Souterrain bezieht, helfen ihr die erlernten Kletterkünste bei ihren nächtlichen Ausflügen über die Dächer der Großstadt.

Barbara Vine versteht es wieder einmal, eine fesselnde Geschichte zu erzählen. Ihre Protagonistin Clodagh berichtet in unterschiedlichen Zeitebenen von ihrer Vergangenheit: über die Hochspannungsmasten und dem Tag des schrecklichen Unglücks, von der britischen Bürgerlichkeit und Jugendlichen, die ihr Leben anders gestalten wollen und von ihrer eigenen Geschichte, die ihr jetziges Leben immer noch beeinflusst. Vine schafft es zwischen einer spannenden Geschichte und dem Psychogramm einer jungen Frau geschickt hin- und her zu wechseln. Der Leser jagt Geheimnissen hinterher, die sich Seite für Seite aufbauen, entschlüsseln, um letztlich miteinander verwoben zu werden.

Die Geschichte wirkt nicht konstruiert, was wahrscheinlich daran liegt, dass Barbara Vine sich niemals an Themen vergreift, die sonst im Genre des Thrillers üblich sind. Es gibt bei ihr keine Serienmörder a la Hannibal Lecter, ihre Helden mühen sich auch nie um die Aufklärung von Umwelt- oder Politskandalen. Vielmehr ist es ihr wichtig, psychologisch interessante Charaktere zu erschaffen, die in einer fast alltäglichen Welt auf Geheimnisse stoßen oder ihre eigenen Geheimnisse haben.

„Heuschrecken“ ist vielleicht nicht ihr bestes Buch, jedoch ein Roman, der sich einfach schön liest, spannend ist und sogar von einer kleinen Lovestory begleitet wird. Auf jeden Fall ein Buch für erholsame Urlaubstage.

Lukas-Christian Fischer
28.02.01


Barbara Vine - Heuschrecken

Diogenes 2001, Leinen gebunden, ca. 656 Seiten, DM 46,90

Über die Autorin

Man nehme den zweiten Vornamen von Ruth Rendell und den Mädchennamen ihrer Urgroßmutter und bekommt: Barbara Vine, Ruth Rendells Pseudonym für ihre Psychothriller. Sie wurde 1930 in London geboren. Ihre Bücher erhielten zahlreiche Auszeichnungen. 1997 erhielt sie den Grand Master Award der Mystery Writers of America und wurde auf Vorschlag von Tony Blair geadelt.