Basisdemokratisch bis zum Exzess

"Indymedia.de"- unabhängige Nachrichten von nebenan und anderswo

Folgende Schlagworte geistern inzwischen durch jede zweitklassige Zeitschrift: Informationsgesellschaft, Multimediazeitalter, Datenautobahn. Allen Unkenrufen aus Pisa zum Trotz muss es sich bei den Deutschen offensichtlich um ein Volk der Hyperinformation handeln, das sich begierig auf Nachrichten stürzt, sei es in "klassischen" Medien wie Fernsehen, Radio, etc. - oder eben im vielgelobten Internet. Nachrichten aus jedem Winkel der Welt, permanent verfügbar für alle.
Doch wie sieht die Realität aus? Schließlich gibt es in der Praxis lediglich eine Handvoll Nachrichtenagenturen, die ihre begrenzte Zahl von Meldungen gleichberechtigt an eine Heerschar informationshungriger Medien verteilen. Und welches Kriterium entscheidet dann über die Weitergabe einer Nachricht? Persönliche Vorlieben der Redakteure? Kommerzielle Verwertbarkeit? Anzahl von Todesopfern? Kein Konsument kann bestimmen, welche Nachricht ihn überhaupt erreicht.

Für das Netzwerk Indymedia gibt es da nur eine Antwort: "Widerstand in der Informationsgesellschaft" titeln sie im Grundsatzprogramm– und setzen anderen Medien ihre eigene Vorstellung von Informationsverbreitung entgegen. Genau die ist bei Indymedia denkbar einfach: Jeder, der eine Nachricht verbreiten will, kann das über das Netzwerk tun, vorausgesetzt, sie ist nicht rassistischen, antisemitischen oder sexistischen Inhalts. Auch eine Hierarchie über die unterschiedliche Wertigkeit von Nachrichten gibt es nicht, jeder Bericht wird schlicht in der Reihenfolge des Einganges veröffentlicht. Getreu dem Grundsatz, "den emanzipatorischen Umgang mit Informationen und Medien" zu fördern, ist potentiell jeder der Produzent einer Nachricht, eine Redaktion existiert nicht - lediglich sogenannte "Moderatoren", die über die Einhaltung von Minimalstandards wachen (so die Verhinderung rechtsextremistischen Gedankenguts).
Erstmals online ging Indymedia 1999 bei Protesten gegen die WTO in Seattle, damals noch in internationaler englischsprachiger Version. Im März 2001 folgte dann der deutschsprachige Ableger, zeitlich passend zu Castor-Transporten im Wendland.

Womit auch die Hauptklientel des Netzwerks schon umrissen wäre – die meisten Indymedia-Nutzer dürften sich als politisch links definieren, das abgedeckte Themenspektrum spricht eine ähnliche Sprache: Antifaschismus, Ökologie, Globalisierungskritik und staatliche Repression gehören sicherlich zu den Schwerpunkten - dies übrigens sowohl vor der eigenen Haustür als auch - tatsächlich - mittels Aktivisten aus entlegeneren Winkeln der Welt.
Und wie es sich für ein von den eigenen Lesern hergestelltes Projekt gehört, ist die Qualität der einzelnen Beiträge höchst unterschiedlich; Das gilt sowohl für ihre Sprache als auch den Informationswert: Gerade in Zeiten größeren Protests kann Indymedia blitzschnell und umfassend auf Geschehnisse reagieren, andererseits kommen viele "Berichte" nicht über den Status einer bloßen Meinung heraus. Ebenso sind die Möglichkeiten, eine Behauptung nachzurecherchieren, begrenzt, Falschmeldungen lassen sich - zumindest theoretisch - leicht bei Indymedia platzieren. Eine immerhin etwas regulierende Funktion bietet da die Gelegenheit jeden Beitrag als Leser zu kommentieren - einsehbar für alle.
Das reicht jedoch nicht immer. So wurde bei Indymedia Schweiz tagelang ein offen antisemitischer Beitrag übersehen, der auf der Seite platziert worden war. Mehrere Indymedia-Mitglieder kassierten darauf Strafanzeigen und die Site ist seitdem offline - alles, was es zu sehen gibt, ist eine eigene Version der Geschehnisse.

Darüber hinaus wird Indymedia oft genug Opfer staatlicher Willkür. Beispielsweise stürmten am 20. Februar dieses Jahres schwerbewaffnete Carabieneries mehrere italienische Indymedia-Zentren und beschlagnahmten Computer, Videos und Archivmaterial. Sinn der Aktion, so spekuliert Indymedia in einer Presseerklärung, sei die Suche nach kompromittierenden Materialien zum Polizeieinsatz beim G8-Gipfel in Genua. Dies jedoch wird nichts gebracht haben. Lange bereits, erklärte Indymedia, seien sämtliche gesuchten Materialien frei im Netz verfügbar gewesen.

Sebastian Stoll, 12.04.2002