Öffentlichkeit
für alle!
Die "Leserzeitung" - Publikationsorgan für
Otto Normal
"Das Leben ist hier für mich und meine 16-jährige
Tochter nicht mehr lebenswert. Deshalb entschied ich mich,
das Studium der Sozialpädagogik aufzunehmen, um später
an einem anderen Ort einen Neuanfang zu wagen"
so lauten sie, die frustrierten und erbitterten Worte der
Gisela H. aus Wörth am Main. Und man hat ihr übel
mitgespielt: 1998 erwarb sie eine Doppelhaushälfte
mit 112 qm Wohnfläche, welche die Gemeinde jedoch kurzerhand
"in ein minderwertiges Reihenmittelhaus umwandelte".
Mit lediglich 83 qm. Wie dieses transzendente Wunder gelingen
konnte, bleibt offen. Fakt ist aber: Gisela H. wurde von
der Politik betrogen.
Wie dieser Skandal in das Licht der Öffentlichkeit
gelangen konnte? Gisela H. hat sie sich selbst besorgt.
Und das kann jetzt nicht nur sie, sondern jeder, der etwas
zu sagen hat oder zumindest davon ausgeht: In der Leserzeitung.
Seit dem 15. August ist das ehrgeizige Projekt der Berliner
Burkhard Gräf und Bernd Findeis online. "Meinungsfreiheit
für alle Menschen und in allen Lebensbereichen"
haben sich die beiden auf die Fahnen geschrieben
und dazu gehört nun mal auch das Internet.
Als Konsequenz bedeutet dies, dass es sich bei der Leserzeitung
der Name deutet es bereits an um eine Zeitung
handelt, deren Inhalte ausschließlich von ihren Lesern
bestimmt werden. Sie ist "für all jene, die meinen,
dass die Wirklichkeit auch von normalen Menschen beschrieben
und kommentiert werden kann." So simpel das Konzept
zunächst anmuten mag, so ehern sind die Ansprüche,
welche sich die Leserzeitung damit gesetzt hat: Man will
genau jene erreichen, deren Standpunkt ansonsten ungehört
in der öffentlichen Debatte verhallt, zeigen, "dass
Nachrichten und Meinung auch existent sind, wenn sie außerhalb
kommerzieller Kanäle entstehen". Dementsprechend
kann jeder, der sich dazu berufen fühlt sei
es die nette Oma von nebenan oder auch ein Journalist, der
mal ohne "redaktionellen Maulkorb" publizieren
will seinen Inhalt in die Leserzeitung einbringen.
Alles, was den Verfassern abverlangt wird, ist die Herausgabe
der Identität sowie selbstverständlich
das Absehen von rassistischen, sexistischen und ähnlichen
Texten.
Und so veröffentlichen sie dann auch: die Ausgeschlossenen,
die Betrogenen, die Mahnenden, die Querdenker und alle,
die sich einer der genannten Gruppen zugehörig fühlen.
Qualität und Relevanz der unterschiedlichen Beiträge
sind dabei wie sollte es bei solch einem Projekt
auch anders sein? höchst unterschiedlich: Die
Palette der Themen umfasst Radikalpamphlete über die
angeblich imperialistisch motivierte Weltkarte ("Indien
scheint kleiner zu sein als Skandinavien, obwohl es dreimal
so groß ist
Die Karte lügt."), amüsantes,
aber irgendwie auch zusammenhangloses über "kuriose
Irrtümer der Geschichte der Paläontologie"
sowie sich selbst publizierende Einzelschicksale wie das
der bereits erwähnten Gisela H.
Ihren Beiträgen entsprechend uneinig wirkt die Leserzeitung:
Ein ehrgeiziges Projekt mit großen Zielen, das bisweilen
trotzdem recht unaufdringlich am Leser vorbeiplätschert.
Und hin und wieder gibt es einen lichten Moment. Im Grunde
also nicht schlechter als eine durchschnittliche Tageszeitung.
Sebastian Stoll
12.11.2001